Reisetagebuch Indien, Boddhi Zendo, Teil 1, 25.1. bis 25.2.1999
Reisetagebuch Indien, Boddhi Zendo, Teil 2, 12.1. bis 7.2.2000
Vorwort zum 3. Teil (veröffentlicht am 31.3.2023), Kontext zählt.
7.1.2001, Sonntag
Wieder im Zendo. Ankunft gestern Morgen mit den Nachtbus aus Madras, nachdem wir den Donnerstag und Freitag noch einmal in Mahabalipuram verbracht hatten. Hier hat sich wenig und doch zugleich viel verändert. Vielleicht am besten beschrieben als atmosphärische Veränderung, die sich an einigen wenigen Äußerlichkeiten festmachen lässt.
Zunächst ist das Haus fertig, das letztes Jahr nur als Rohbau zu sehen war. Es steht links neben der Zufahrt zum Zendo und Ama Sami wohnt darin. Unmittelbar davor gibt es nun ein Tor und an dieses Tor schließt ein Zaun an, der oben mit Stacheldraht bewehrt ist. Ich mag das nicht, mit Stacheldraht geschützt und zugleich eingeschlossen zu sein.
Als nächstes gibt es einige „hilfreiche“ Schilder, die den Umgang mit den Waschbecken oder der Bücherei “lehren”. Alles Dinge, die in den Jahren davor noch “mündlich überliefert” wurden, was zumindest den Eindruck eines freien Umgangs miteinander erzeugte. In der Bibliothek ist es nun nicht mehr möglich, sich selbst in der Ausleiheliste ein- oder auszutragen.
Kurz, einige Äußerlichkeiten lassen den Eindruck einer relativ rigiden Gesamtanlage der Dinge hier entstehen. Gestützt wird dieser Eindruck noch durch die Altersstruktur. Die meisten hier dürften zum Teil wesentlich über 50 Jahre alt sein.
8.1.2001, Mittwoch
Beim Samu hat mich das Toilettenreinigen erwischt und während ich zuerst dachte, es sei eine Strafe dafür, dass ich den Toilettendienst zu Hause so sehr vernachlässigt habe, könnte es auch Belohnung sein für ich-weiss-nicht-was. Denn: die Arbeit ist erstaunlich schnell erledigt und danach habe ich Zeit, mich einer anderen Arbeit meiner Wahl anzuschließen.
<O>
Eine Beobachtung allgemeiner Art: Das Essen ist schlechter geworden, oder aber ich kann es nicht mehr so genießen. Insgesamt ist es zu wenig gewürzt, was einerseits daran liegen könnte, dass die Köchinnen versuchen, auf den europäischen Geschmack einzugehen. Andererseits aber auch in den Speisevorschriften der Yogis, die scharfes Essen als der Meditation abträglich ansehen, begründet sein könnte.
9.1.2001, Dienstag
Um beim Essen zu bleiben: gestern Abend eine kurze Szene mit D. beim Abendessen. […]
[…]
[…] Nach einiger Zeit schlüpft sie neben mir ins Doppelbett, da ich in meinem Zimmer habe und wir schlafen Arm in Arm ein. Mit keiner Lösung und der Vermutung, morgen so aufzustehen, wie wir heute schlafen gehen.
<O>
Heute morgen ein frühes aus dem Bett schlüpfen, noch vor dem Morgengeklingel. Meditation, wortloses Aneinander-vorbeigehen, meine Versuche, über kleine Berührungen mit Ihr Kontakt aufzunehmen, werden eher aus Höflichkeit, denn aus Neigung beantwortet.
10.01.2001 Mittwoch
11.01.2001 Donnerstag
12.01.2001 Freitag
Alles, was einen direkt berührt, berührt die anderen indirekt.
13.01.2001 Samstag
[Ich lese] Laurence G. Boldt: Zen and the art of making a living [und notiere seitenweise Fragen daraus, die ich mir irgendwann einmal beantworten möchte. Was nie geschehen wird.]
14.01.2001 Sonntag
15.01.2001 Montag
Gefühle großer Verlassenheit, gestern ein freier Tag, zugleich Pongal – Erntedankfest – hier. Auf einem unserer Wege ins Dorf blieben D. und ich auf einem Felsen sitzen, Aussicht auf herrlichste Berglandschaft und Mittagsmond, und sprachen. […]
[…]
Nur allzu leicht räume ich in Gesprächen wie dem gestrigen ein, dass unsere Beziehung enden könnte, enden wird. Dass da ein junger zeugungsfähiger Mann kommen wird, mit dem sie das Kind haben könnte, von dem sie träumt (oder dass sie vorschiebt, um einen “objektiven” Grund für unser nicht-zusammen-sein-können zu haben). Ich kann diese Zeit leicht anschauen und darüber reden, dass es vielleicht der Sinn unserer Beziehung war, ihre Vater-Tochter-Dinger aufzulösen oder doch wenigstens ertragbar zu machen. Das tut beim drüber reden nicht mal weh, obwohl mir schon jetzt davor graut, die Trennung real zu erleben.
In meinen Fantasien bleibe ich mit ihr freundschaftlich verbunden. Ich bin ihrem Kind ein Onkel und manchmal besucht sie mich auf der „Wiese“.
Sonne.
Neben all dem haben wir ein “zweites Leben“, indem wir Pläne für unsere gemeinsame Zukunft machen oder doch zumindest ernsthafte gemeinsame Alternativen zu unseren jeweiligen gegenwärtigen Leben erwägen. Diese Alternativen sind nicht weniger gewollt, in nichts weniger mögliche Zukunft als meine Trennungsphantasien, auch wenn das zunächst unvereinbar klingt. Vielleicht geht es auch deswegen zusammen, weil ich diese gemeinsame Zukunft auch alleine leben könnte.
[…]
<O>
Heute morgen dann diese Verlassenheit, ausgelöst dadurch, dass sie sich, wie an den anderen Tagen zuvor auch, doch ohne dieses Ergebnis, an einen anderen Tisch setzt. Es ist einzig und allein meine Verlassenheit, bis zum Morgen haben wir gemeinsam in unserem Bett geschlafen und nach dem Frühstück versuchte sie, durch kleine Gesten Kontakt aufzunehmen.
Überwiegen die guten oder die schlechten Tage?
Beim Pinkeln schaue ich an mir herunter und mein Fuß ist mein Fuß, als ich Kind war. Wir gehen hier in der Zeit vor und zurück, ganz nach Belieben. Nur nicht unserem Belieben!
16.01 01. Dienstag
Der erste volle Tag des Sesshin.
17.01.2001 Mittwoch
18.1. 2001 Donnerstag
19.01 2001 Freitag
[Mein zweites Koan]
Dies also mein zweites Koan. Nachdem ich letztes Jahr ganz und dieses Jahr bis heute ausgesetzt habe, bin ich heute zum Dokusan, “um mich wieder ins Spiel zu bringen”.
Im Teisho gestern wurde mein erstes Koan erwähnt. Ich erinnere mich wieder daran, [… u]nd während im letzten Jahr das nur-sitzen vollkommen okay war, schien es mir dieses Jahr zunehmend ineffektiver, meint: bereichernd.
Wichtiger aber scheint mir der Gedanke und die Formulierung “wieder ins Spiel zu wollen”. Ich habe einen kurzen Moment gezögert ihn auszusprechen und er scheint mir auf so vieles mehr anzuspielen, als nur auf das Koan. Zuallererst wohl mein Berufsleben, ich habe hier eines der vielen How-to-lead-a-live-Bücher gefunden, aus Zen-Perspektive selbstverständlich.
Und darin geblättert, ja, auch anstecken lassen von der Möglichkeit (!), ein anderes, ausgefüllteres Leben führen zu können.
Das Schweigen während des Sesshins ist zu zweit noch einmal anders als alleine. Sich nicht mit Worten aufeinander beziehen zu können, ist doppelt schwer, wenn es sonst nichts gibt. Mir kommt es vor, als risse unsere Beziehung gänzlich ab, wenn wir schweigen. Meine Versuche, wenigstens über Blickkontakt in Beziehung zu bleiben, werden nicht erwidert, oder falls doch, stürzen sie mich in Unsicherheit? Ist dieser Blick ein liebender?
Vielleicht deswegen haben wir uns gestern eine Auszeit vom Schweigen genommen und, wenn wir alleine waren, miteinander gesprochen und geschwätzt. Wie wichtig gerade auch das Geschwätz ist, ist mir erstmals klar geworden. Es versichert uns der Beziehung, wo wir ihrer unsicher sind.
Was aber, wenn da keine ist? Manchmal fühlt es sich für mich so an. Ich spüre keine Verbundenheit, nichts Gemeinsames, suche das Dauerhafte unseres Paar-seins. Worin bildet es sich ab? Darin, dass wir manchmal etwas näher beieinander sitzen, ja, gar ein Zimmer. gemeinsam bewohnen? Und manchmal neben-, manchmal miteinander schlafen?
Gut, das ist ein schöner Anfang! Aber langt das aus? Nein, ich wünsche mir mehr. Wenn ich auch nicht genau benennen kann, wie dieses Mehr heißt. Ein Teil dieses Mehr heißt sicher. “Annahme”. Ich will angenommen sein, so wie ich bin. Ich wünsche mir das Gefühl, dass es ausreicht, zu sein, was ich bin, um anerkannt zu sein.
20.01.2001 Samstag
Dokusan: “[Mein zweites Koan]”
Auf abstrakter Ebene ist es recht einfach, das Koan zu sein. […]
Sobald dann aber ich den Versuch unternehme, in die Situation zu gehen, sie mir bildhaft vorzustellen, gibt es wieder “zwei” […]. Alle Versuche uns zwei näher zueinander zu bringen … .
Soweit und etwas gerafft mein “first approach“ an den Koan […]. Mein erster Gedanke, eine kleine Pantomime aufzuführen, scheiterte an der Idee zur Durchführung. Wie stellt man [die Antwort auf das Koan] pantomimisch dar? Und schon war der Moment herum, den ich gehabt hätte. “Next time!”
<O>
Kontinuität
Verlässlichkeit
Zuwendung
Kontakt
Annahme
Wie eine Kerze im Zug.
<O>
Was „wir“ heute abliefern, ist ohne Worte im wahrsten Sinne des nicht-gesprochenen Wortes.
[…]
<O>
[…]
21.01 01. Sonntag
Ende des Sesshin nach dem Frühstück. Gewaschen und umgezogen sitze ich in der Sonne vor meinem Zimmer.
<O>
Es scheint, als ob die gestrige Dunkelheit zum allergrößten Teil, sagen wir so um die 80 Prozent, in meinem Kopf war. Überbewertungen und -reaktionen. Vielleicht auch ein wenig gegenseitige Hochschaukelei. Nichts auf jeden Fall, was die innere Raserei rechtfertigen könnte, die ich veranstaltet habe. Nichts vor allem, was nicht mit ein bisschen Nachgiebigkeit aus der Welt zu schaffen gewesen wäre. Aber ich musste ja den Endkampf um den Zustand unserer Beziehung daraus machen.
Was ist daraus zu lernen? Zunächst einmal, da gibt es das Gefühl, vollkommen unverbunden zu sein. Es gibt das Fehlen jeder inneren Sicherheit, dass “sie mir gut ist”. Es gibt in mir die Bereitschaft, mich zum eigenen Schaden entgegen meiner gegenteiligen Wünsche zu distanzieren. Es gibt die Bereitschaft, Situationen nach folgendem Muster zu strukturieren: Sie behandelt mich schlecht und ich werde das nicht akzeptieren.
Ich neige zur Unnachgiebigkeit.
Festzuhalten ist auch, dass ich unglaublich viel Energie damit verschwende, wenn ich so “schweigend vor mich hin wüte”. Da ist kaum etwas für wirkliche Meditation übrig geblieben.
Nachdenken möchte ich darüber, was es bedeutet, dass meine inneren Dialoge so verletzend sind. Vieles würde ich in einem realen Gespräch so nicht sagen, weil ich fürchten würde, schwere oder nicht heilende Wunden zu schlagen.
Als Aufgabe habe ich nun „zurückzukehren“. So viel Abkehr, so viel Entfernung war in meinen Gedanken. Und diese Gedanken haben für mich Realitätswert gehabt, man(n) wechselt nicht so einfach seine Realität.
Ich muss mich also nicht, oder deutlich weniger, schützen. Muss nicht heute die Spielregeln unserer zukünftigen Beziehung auskämpfen. Muss mich nicht darum sorgen, ob ich derjenige bin, der immer kommt. Muss mich nicht ungeliebt fühlen. Vor allem muss ich mich nicht entfernen um all diese miesen Gefühle ein für allemal auszuschließen
<O>
Einige schöne Rückmeldungen erhalten. Es war angenehm, mit mir Gemüse zu schneiden (Wir waren auch nach meiner Meinung ein gutes Team). Und ich hätte erstaunlich ruhig gesessen. Ein Lob, das mich dann doch erstaunt, weil es sich nicht mit meiner Innenwahrnehmung deckt.
22.01.2001, Montag
23.01.2001, Dienstag, [Mein drittes Koan]
24.01.2001, Mittwoch
25.01.2001 Donnerstag
[Donnerstags besteht die Möglichkeit ins nahe gelegen Städtchen, Kodaikanal, zu fahren.]
<O>
„Es gibt keine Lösung, weil es kein Problem gibt.“
Marcel Duchamp
<O>
Wie es mit dem “[Koan]kram” weiterging?
Ich ließ drei Tage herumgehen bis ich schließlich wieder zum Dokusan ging, nicht um das Koan zu lösen, sondern um im Gespräch zu bleiben. Ich sagte, ich wollte nur sicherstellen, dass er keine kleine Pantomime von mir wünsche, erstens, und zweitens seien mir die metaphorischen Bedeutungen [des Koans] durch den Kopf gegangen – Wünsche, Begierden – die zu zeigen ich noch viel weniger imstande sei.
Gewiss, manchmal seien kleine Darstellungen gefragt und manchmal gehe es auch um die Metaphern. [… U]nd setzt sich hin und schließt die Augen und ist [das Koan]. Vermutlich zumindest, denn so genau war das von außen nicht zu erkennen, was innen geschah.
Kurze Pause, dann “I will give you and new koan: [Mein drittes Koan]” Ich wiederholte die Frage und war entlassen.
So also bin ich nun bei meinem dritten Koan. Ohne die ersten zwei gelöst zu haben. Oder habe ich das, ohne es zu wissen? Ich bin mit neuem Interesse an der Literatur nun auf der Suche nach Hinweisen darauf, wie mit Koans umzugehen ist. Wichtig ist wohl, zum Koan zu werden, wie auch immer das erreicht wird. In einigen Schulen gehört es wohl dazu, dass Koan vor dem Versuch, es zu lösen, erneut aufzusagen, Wort für Wort auswendig. In anderen (oder den gleichen?) wird es während der Meditation in Gedanken Wort für Wort rezitiert. Ich muss mehr darüber herausfinden.
<O>
Eigentlich möchte ich über D. und mich schreiben, aber was? Unseren Groll aus dem Sesshin haben wir ab-, vielleicht auch nur beiseitegelegt. Ein Gespräch während des Aufstiegs auf den Peak nahm den für uns so typischen Verlauf einer ersten und langsamen Annäherung, der dann der Gesprächsabbruch seitens D. folgt, den sie oft so setzt, dass einfach durch räumlichen Abstand oder Menschen drumherum eine Fortsetzung wirklich unmöglich ist. Ich bleibe dann „angebrochen“ zurück und kann mich mit mir selbst unterhalten. Einziger Vorteil, ich muss nicht auf die Formulierung achten, denn da ist niemand mehr, den ich verletzen könnte.
Im Ernst, diesen Verlauf haben seitdem noch zwei weitere Gespräche genommen und ich vermute auch einige zuvor, ohne dass ich ihn zu diesem Zeitpunkt schon hätte benennen können. Aber was geschieht da? Ich glaube, sie wird einfach ungeduldig, weil sie von mir keinen Beitrag erhält, wie sie ihn erwartet. Was genau ihre Erwartung ist, weiss ich nicht.
Ganz allgemein formuliert sollte ich wohl mehr von mir erzählen. Leider erkennt sie nicht immer, wenn ich das tue. Und auf dem Weg zum Peak habe ich mich an einer Stelle dreimal wiederholen müssen, nur um festzustellen, dass sie meine Innenweltdarstellung unbedingt als Außenweltdarstellung diskutieren und bewerten wollte. Ein weiterer Versuch scheiterte am steilen Aufstieg […].
Dass ich nicht ihr Therapeut sei, muss ich wohl mal unbedacht gesagt haben, und auch dies trägt sie mir nach. Ebenso meine Anspielung auf den Beginn einer Therapiesitzung, als sie mich nach ich-weiss-nicht-mehr-was fragte. Dabei hätte ich mich durchaus darauf eingelassen. Mir ist ihr in-mich-dringen nicht so unangenehm, wie sie denkt.
Gewiss auch deswegen nicht, weil ich in der Vergangenheit bemerkt habe, dass sie solche engen Momente als Vorspiel benutzt. Geteilter Seelenschmerz als Stimulanz. Da scheinen beide von beidem etwas zu haben. Warum also nicht? Hat vor allem den Vorteil, dass es funktioniert. Ganz anders als ihre erfolglosen Versuche, mich hervorzulocken, wenn ich ohnehin schon sauer und umso mehr verschlossen bin. Bis ich dann halbwegs gesprächsfähig bin, ist ihre Geduld schon erschöpft und siehe-oben.
<O>
Enttäuschung also auf beiden Seiten. Sie hätte sich wohl mehr Unterstützung, Zuspruch oder Nachfrage bei Ihren persönlichen Problemen gewünscht. Ein Anspruch, dem ich nur zeitweise und mit Mühe nachkomme
Aber auch meine Hoffnung auf ein etwas freudvolleres und unbeschwerteres Leben hat sich nicht erfüllt. Stattdessen kämpfe ich nun an in fast allen Lebensbereichen mit dem Gefühl des Unvermögens.
26.01 Freitag
27.01 Samstag
28.01 Sonntag
Unser letzter Tag morgen fahren wir ab. Zunächst nach Madurai, wo wir noch zwei Tage verbringen werden. Danach nach Madras oder Mahabalipuram, wo wir nur noch auf den frühen Abflug warten werden.
Heute morgen habe ich noch einige Blumensamen aus dem Garten entnommen. Und auch einen Ableger der Minze. Ich möchte auch versuchen, einige Ableger des Koreagrases großzuziehen, es wächst so hübsch puschelig. Das mag ein Risiko sein, weil es angeblich nicht winterhart ist.
Nun, ich werde sehen.