Heute ist der erste Tag, an dem ich unsicher bin, was ich einstellen werde. Ein vorbereiteter Beitrag scheint mir nun doch unpassend, eine „der Einfachheit halber“ gewählte Idee ist in der Umsetzung doch aufwändiger als gedacht, nichts drängelt vor und möchte benannt oder gezeigt sein. Ich löse die Situation auf, indem ich sie zum Beitrag mache:
Autor: g.
24925 – reingeschaut
24924 – Miranda July & Harrel Fletcher: Learning To Love You More
angelegt an 24921
Seid Ihr jetzt etwas verwirrt? Wollt Ihr eigentlich gar nicht so viel lesen? Dann geht doch einfach weiter.
Andererseits, wenn Ihr wirklich etwas über mich erfahren wollt, dann solltet Ihr den Aufwand nicht scheuen und einen Blick mehr riskieren. Denn Sachen wie die beschriebene Aktion sind genau das Zeug, das mich fasziniert. Die Präsentationen davon anschauen, ja, unbedingt. Selbst mitmachen? Vermutlich bin ich für manche der Aufgaben zu zurückhaltend. Aber zwischen „Kann ich!“ und „Niemals!“ gibt es ein spannendes Mittelfeld, das überdacht werden will. Seht selbst.
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Learning To Love You More, was sich zunächst wie der Name eines Beziehungsratgebers anhört, ist eine von Miranda July und Harrel Fletcher initierte (Kunst-)Aktion. Sehr frei übersetzt wird die Aktion auf ihrer Website wie folgt beschrieben:
Learning to Love You More ist sowohl eine Website als auch eine Reihe von musealen Präsentationen, die aus Arbeiten von Menschen bestehen, die im Rahmen der Aufträge durch die Künstlerinnen entstanden sind. Yuri Ono hat die Website entworfen und verwaltet.
Die Teilnehmer*innen wählten einen Auftrag, erfüllten ihn, indem sie den einfachen, aber spezifischen Anweisungen folgten, schickten den erforderlichen Bericht (Fotografie, Text, Video usw.) ein und ihre Arbeit wurde online veröffentlicht. Ähnlich wie ein Rezept, eine Meditationsübung oder ein bekanntes Lied sollte die vorschreibende Natur dieser Aufgaben die Menschen zu ihren eigenen Erfahrungen führen.
Da Learning To Love You More auch eine sich ständig verändernde Reihe von Ausstellungen, Vorführungen und Radiosendungen war, die auf der ganzen Welt präsentiert wurden, war die Dokumentation der TeilnehmerInnen auch ihre Einreichung für eine mögliche Aufnahme in eine dieser Präsentationen. Präsentationen fanden an Orten wie dem Whitney Museum in NYC, dem Rhodes College in Memphis, TN, der Aurora Picture Show in Houston, TX, dem Seattle Art Museum in Seattle, WA, dem Wattis Institute in San Francisco CA und anderen statt.
Von 2002 bis zu seinem Abschluss im Jahr 2009 nahmen über 8000 Menschen an dem Projekt teil.
Die gestellten Aufgaben (auf die wir zurückkommen werden):
- Mache ein Kinderoutfit in Erwachsenengröße.
- Mache eine Feldaufnahme in deiner Nachbarschaft.
- Mache einen Dokumentarfilm über ein kleines Kind.
- Beginne eine Vorlesungsreihe.
- Stelle einen Gegenstand aus der Vergangenheit von jemandem nach.
- Mache ein Poster von Schatten.
- Stelle 3 Minuten eines Fresh Air-Interviews nach.
- Kuratiere eine Retrospektive eines Künstlers an einem öffentlichen Ort.
- Zeichne ein Sternbild aus den Sommersprossen von jemandem.
- Mache einen Flyer von deinem Tag.
- Fotografiere eine Narbe und schreibe darüber.
- Bekomme ein temporäres Tattoo eines der Nachbarn von Morgan Rozacky.
- Stelle den Moment nach einem Verbrechen nach.
- Schreibe deine Lebensgeschichte in weniger als einem Tag.
- Hänge ein Windspiel an einen Baum auf einem Parkplatz.
- Mache eine Papierreplik deines Bettes.
- Nimm deine eigene geführte Meditation auf.
- Stelle ein Poster nach, das du als Teenager hattest.
- Illustriere eine Szene oder stelle einen Gegenstand aus Paul Arensmeyers Lebensgeschichte her.
- Mache ein Familienporträt von zwei Familien.
- Bildhauere eine Büste von Steve.
- Stelle eine Szene aus Laura Larks Lebensgeschichte nach.
- Stelle diesen Schnappschuss nach.
- Mache ein Cover des Songs „Don’t Dream It’s Over“.
- Mache ein Video von jemandem, der tanzt.
- Designe ein Kleidungsstück für Mona zum Häkeln.
- Mache ein Foto von der Sonne.
- Bearbeite eine Seite eines Fotoalbums.
- Mache eine Audioaufnahme eines Chores.
- Mache ein Foto von Fremden, die sich an den Händen halten.
- Verbringe Zeit mit einem sterbenden Menschen.
- Zeichne eine Szene aus einem Film, der dich zum Weinen gebracht hat.
- Flechte jemandem die Haare.
- Mache ein Protestplakat und protestiere.
- Bitte deine Familie, zu beschreiben, was du tust.
- Pflanze einen Garten an einem unerwarteten Ort.
- Schreibe einen kürzlich stattgefundenen Streit auf.
- Spiele den Streit eines anderen nach.
- Mache ein Foto von deinen Eltern beim Küssen.
- Heile dich selbst.
- Dokumentiere deine Glatze. (24923, diese Seite)
- Liste fünf Ereignisse aus dem Jahr 1984 auf.
- Mache eine Ausstellung der Kunst im Haus deiner Eltern.
- Erstelle eine „LTLYM-Aufgabe“.
- Lies dein Lieblingsbuch aus der fünften Klasse noch einmal.
- Zeichne Raymond Carvers „Cathedral“.
- Spiele eine Szene aus einem Film nach, der jemanden zum Weinen gebracht hat.
- Mache das traurigste Lied.
- Zeichne ein Bild vom Freund deines Freundes.
- Mache ein Schnappschuss unter deinem Bett. (24923, diese Seite)
- Beschreibe, was mit deinem Körper geschehen soll, wenn du stirbst.
- Schreibe das Telefonat, das du gerne führen möchtest.
- Gib dir selbst in der Vergangenheit Ratschläge.
- Zeichne die Nachrichten.
- Fotografiere ein bedeutungsvolles Outfit.
- Mache ein Porträt der Wünsche deines Freundes.
- Synchronisiere die Lippen zum Garth Brooks-Cover deines schüchternen Nachbarn.
- Nimm das Geräusch auf, das dich wach hält.
- Interviewe jemanden, der Krieg erlebt hat.
- Schreibe eine Pressemitteilung über ein alltägliches Ereignis.
- Beschreibe deine ideale Regierung.
- Erstelle eine informative öffentliche Tafel.
- Mache ein ermutigendes Banner.
- Zeige uns eine Übung.
- Führe das Telefonat, das sich jemand anderes gewünscht hätte.
- Erstelle einen Feldführer für deinen Garten.
- Repariere etwas. (24923, diese Seite)
- Spüre die Nachrichten.
- Klettere auf die Spitze eines Baumes und mache ein Foto von der Aussicht.
- Verabschiede dich.
Zu jeder der Aufgaben gibt es ausführlichere Erläuterungen, die manchmal die Aufgabe erleichtern und manchmal erschweren. Für den ersten Eindruck, den ich Euch hier vermitteln will, sind sie nicht wichtig. Aber für die Aufgaben 21 und 23 braucht Ihr jeweils ein Foto. Hier sind sie:
Ich find‘ das spannend.
24923 – Wölfinnen
Heute Nachmittag war ich in der Premiere von „Wölfinnen“ im Kleinen Haus des Stadttheaters Gießen. Ein Stück um weibliche Identität und Identitätsfindung, das für ein jüngeres Publikum gedacht ist und dennoch Frauen und Männer meines Alters begeisterte.
Zu Beginn des Stückes sehen wir vier junge Frauen in einem Zelt- und Schlafsacklager im Gespräch darüber, wie denn der Prinz sein sollte und was dahingehend zu wünschen sei, denn er könne ja auch ein Handwerker sein. Die Autorin des Stücks, Julia Haenni, ist Schweizerin; vermutlich sehen wir Wölfinnen, Pfadfinderinnen der Altersstufe 6 – 12 Jahre, die erst seit 2010 in der Schweiz so genannt werden (zuvor waren sie Bienlis*). Es ist das letzte Mal, dass wir Handlung und Handelnde so genau verorten können, über eine Traumszene löst sich Eindeutigkeit auf, das Spiel wird assoziativer, Kostüme und Geschlechtszugehörigkeiten werden gewechselt, wir erleben Irrungen und Verwirrtheiten im Umgang der Geschlechter miteinander, aus Mädchen werden Frauen, irgendwann dann begegnen wir den Wölfinnen wieder, die nun in einer Rollenumkehr als Jägerinnen durch den Wald streifen und Wölfe oder Männer jagen. Die Männer freilich tragen die ihnen zugedachten roten Kappen nicht, weil sie in lächerlichen kurzen Hosen auftreten sollen. An dieser und anderen Stellen geht das Stück meta, ist sich seiner Gespieltheit bewußt und zeigt das auch. Die Trennung zum Publikum wird aufgeweicht, als nicht nur die Protagonistinnen Wünsche äußern, etwas wollen, sondern auch eine Wunschbox mit Wünschen aus dem Publikum verlesen wird. Danach geht das Spiel weiter und rührt mich auf einer sehr persönlichen Ebene, als Rotkäppchen, vom Opfer zur rottragenden Wölfin gereift, aber voll innerer Widersprüche, die Liebe eines Menschen nicht annehmen kann. Beide müssen wieder in die Kälte, wo wenigstens das Rudel sie aufnimmt, in einem Schlafsacklager. Das Ende trifft den Anfang.
Ich mochte das Stück sehr, wünschte mir, ich könnte es nachlesen in manchen Passagen, es hier zitieren. Für Euch und für mich, wir würden uns wiedererkennen. Jeder für sich und manchmal auch zusammen.
Ich mochte den Humor und bitteren Ernst des Stückes, es arbeitet mit starken Bildern und manchmal auch fragwürdigen, die es dann in Frage stellt („Ich will mich nicht mit einem Brötchen identifizieren!“), nur um trotzdem damit zu spielen („Du bist der Schinken!“). Das könnte von mir sein, wenn es dafür nicht viel zu gut wäre.
Und ich mochte das Bühnenbild, dem es gelang, aus wenig viel zu machen. Ich komme da von der handwerklichen Seite, frage mich, was ich davon umsetzen könnte, wenn ich der Bühnenbildner der örtliche Laienbühne wäre. Nun, genug um damit zufrieden zu sein.
Ich wurde gut unterhalten und emotional berührt, mehr brauche ich nicht für einen gelungenen Theaterbesuch und ein Empfehlung.
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Heute hatte ich obendrauf noch einen Bonus, Gesellschaft und Gespräch vor und nach der Vorstellung. Zufällig traf ich im Foyer auf Herrn E., den Verantwortlichen für die Kulturloge und Cl. (eine Bekannte von Nachbar Z. und mir vom sehen her bekannt), die Herrn E. in ihrer Rolle als Kulturbegleiterin, nun, begleitete. Als wir vor der Kaffeebar aufeinandertrafen und bemerkten, dass wir einander kennen, wie weitläufig auch immer, entstand in jedem von uns der Eindruck, dass die jeweils anderen zwei sich zumindest schon besser kennen, als sie selbst mit den jeweils anderen bekannt sind. Auf diese Weise kamen wir recht zwanglos miteinander ins Gespräch, suchten uns einen kleinen Dreiertisch und sprachen über das, was halt am nächsten lag, Theater und Kultur. Locker genug, um nicht überfrachtet zu sein mit irgendwelchem Bildungsbürger-Geblubbere, das ich meide, wenn ich kann. Ich hatte Spaß. Und irgendwann haben wir auch herausgefunden, dass wir als quasi Unbekannte miteinander sehr angenehm im Gespräch sind.
Und das blieben wir auch nach dem Einlass und noch kurze Zeit nach dem Stück. Ich wage zu sagen, dass wir uns einig waren in der Einschätzung, dass dieses Stück Jugendtheater auch jedem Erwachsenen genug Identifikationsmaterial gibt, um befriedigt und gedankenvoll nachhause zu gehen.
Ich bin sehr zufrieden mit dem Nachmittag und Abend, ich mochte das Stück und ich mochte die Menschen.