25008 – Sinnsuche

Manchmal schaue ich etwas an und denke mir: „Und wenn es keinen Sinn ergibt, dann müssen wir auch keinen suchen!“ Ein Arrangement  wie das oben im Bild zum Beispiel kann diesen Gedanken auslösen.

Nun hat der Gedanke, wenn ich ihn denke, schon einen weiten Weg hinter sich, er wird von Watzlawick dem weißen Hasen in „Alice im Wunderland“, letztlich also dem Verfasser der Geschichte, Lewis Carroll, zugeschrieben. Wer jemals Stille Post gespielt hat, weiß, was bei der Überlieferung selbst unterkomplexer Gedanken geschieht. Sie werden entstellt.

Also dachte ich mir, ich schaue mal nach, wie das Zitat, von dem ich ahnte, dass es wörtlich so nicht zu finden sei, bei Watzlawick Verwendung findet. Wo es zu finden sei, hatte ich eine ungefähre Vorstellung und „meinen“ Watzlawick habe ich vollständig – dachte ich. Es zeigt sich, dass ein Buch, die „Anleitung zum Unglücklichsein“ nicht vorhanden ist. Ich bin sicher, dass ich sie hatte, aber das Buch ist ein typischer Kandidat, der ausgeliehen wird und nicht zurückkommt.

Dennoch überfliege ich die Inhaltsverzeichnisse der vorhandenen Bücher, nichts dabei, das ich auf Anhieb mit vergeblicher Sinnsuche assoziiere. Also lade ich das fehlende Buch schnell herunter, und durchsuche es nach „Hase“ (gepriesen sei die Wunderwelt der Elektronik), leider nichts. „Carroll“ wird auch nur in anderem Zusammenhang zitiert, also auch nichts.

„Dann lass‘ ich mir halt was erfinden!“, denke ich und wende mich an die KI meines Vertrauens. Die gibt mir als Quelle des von mir genannten Zitats erst einmal das Buch an, das ich gerade händisch-elektronisch und ergebnislos durchsucht habe. Soweit hat das mit dem Erfinden also schon einmal gut geklappt.

Eine Nachfrage später habe ich viel Sinnig-Unsinniges zur Hasen-Metapher, die in dieser Ausführlichkeit bei Watzlawick nicht vorkommt und einige wenige Interpretationsangebote, die sich mit meiner Erinnerung decken. Und nur die will ich mit Euch teilen.

„Irgendwo“ also geht es bei Watzlawick um Sinnsuche und unsere (menschliche) Tendenz, Sinn auch in chaotischen oder sinnentleerte Ereignisse hineinzuinterpretieren. Wir wünschen uns Sinn. So sehr! Da die Welt aber nicht immer sinnhaft strukturiert ist, sind wir manchmal versucht, an der Realität (oder dem, was wir dafür halten) herumzubiegen. Das kann, in Abhängigkeit von der dazu notwendigen Energie, auch kontraproduktiv werden.  Obsessives Grübeln,  Zwänge und vermutlich auch jede andere Sorte Neurose sind da schnell mal entwickelt. Wovor Watzlawick uns bewahren möchte. Schriebe er das Buch heute, käme vermutlich noch eine Warnung vor allzu Quergedachtem hinzu.

Bei Watzlawick ist das vermutlich noch etwas tiefer ausgearbeitet, aber mir reicht das für einen Abend und eine Notiz an mich selbst:

„Aufhören Sinn zu suchen, stattdessen die Sinnlosigkeit in vielen Geschehnissen des Lebens akzeptieren und Energie in Veränderbares investieren.“

Das wär‘ doch schon einmal was.

24994 – Buddy

…, in diesem Buch jedenfalls, es ist immer noch „Spätestens im November“ von Hans Erich Nossack, heißt das kleine Kind der weiblichen Hauptfigur Günther.

Das Buch ist von 1955. Ich weiß, es war damals nicht weiter verwunderlich, dass ein Kind Günther hieß. Und obwohl ich doch fast ausschließlich ältere Literatur lese, komme ich meiner Erinnerung nach zum ersten Mal hartnäckig mit einem Namen überhaupt nicht klar. Ein Kleinkind namens Günther, es funktioniert in meinem Kopf einfach nicht, auch nach fünfzig Seiten noch nicht. Es bleibt ein Störfaktor. Ich lese das die ganze Zeit wie mit einer wiederholt aufpoppenden Fehlermeldung im Hirn: Achtung, Name falsch gewählt.

Es fühlt sich äußerst merkwürdig an. Dabei wäre dieser Günther, dessen Mutter ihn ausgerechnet für einen dahergelaufenen Dichter verlassen hat, jetzt in seinen Siebzigern. Es ist gar nichts Ungewöhnliches daran. Alle Günther müssen doch einmal als Kleinkind angefangen haben. Mir ist nur genau an dieser Stelle gerade etwas Vorstellungsvermögen abhanden gekommen.

Buddenbohm & Söhne

Der Text oben ist aus einem Blog, den ich regelmäßig lese und hier auch schon empfohlen habe.  Er hat mich an ein Gespräch erinnert, dass ich acht Tage zurück mit Cl. hatte. Wir standen an der Theke des Nachtlichts und sprachen scheinbar Belangloses. Mein Bruder G. lässt sich von Freunden schon lange Buddy nennen und irgendwie kamen wir darauf, dass ich ihn immer noch G. rufe, aus langer Gewohnheit und weil er für mich eben G. ist. Keine tiefere Wendung, kein Disput, wir smalltalk·ten.

Cl. ist eine voluminöse Frau mit einer tiefen, tragenden Stimme, die die Angewohnheit hat, Gesagtes zu wiederholen, so als müsse sie es von sich selbst hören, um darüber nachzudenken. Und wie sie meine Worte solcherweise innerer Bearbeitung zuführt, komme ich mir wenig überzeugend vor und auf eine unbestimmte Weise auch unzureichend. Nicht, dass ich Cl. von irgendetwas hätte überzeugen müssen, wir hätten auch über die Milch im Kaffee reden können, auf den sie wartete.

Und genau dieses Gefühl des Ungenügens fiel und fällt mir wieder ein, wenn ich den obigen Text lese. Mit einigen Stunden Abstand kann ich das Geschilderte auch mit meinen seltsam-selbstzweifelnden Gefühlen an der Theke zusammenbringen. Ich projiziere, dass erwähnt-fiktiver Günther und auch mein Bruder G. ihren Namen im späteren Leben mit der gleichen „aufpoppenden Fehlermeldung im Hirn: Achtung, Name falsch gewählt“ betrachten. Klingt Buddy nicht viel netter als G. und weckt es nicht die besseren Assoziationen? Ganz abgesehen davon, dass der Buddy von heute auch der bessere Mensch ist.

G. oder Buddy, Hose wie Jacke, woher das schwierige Gefühl? Nun, weil es eben nicht Hose wie Jacke ist (seltsame Redewendung). Hose und Jacke bezeichnen zwei grundsätzlich verschiedene Kleidungsstücke, was jeder bezeugen kann, der in der Öffentlichkeit auf das Eine oder das Andere verzichtet. Nun habe ich im Bekannten- und Freundeskreis drei Personen, die ich unter einem anderen Namen kennengelernt habe, als dem, den sie heute verwenden (eine weitere sieht noch vom Namenswechsel ab, hat aber schon darüber nachgedacht). Bei allen ist das keiner weiteren Erklärung bedürftig, ich nenne sie bei dem Namen, den sie auf sich angewendet hören möchten, dem Namen mit dem sie sich identifizieren, dem Namen, der sie sind.

Ich glaube, in diesem kurzen Gespräch an der Theke bin ich mir drauf gekommen, dass ich meinen Bruder anders – schlechter – behandle als die Menschen in meinem Freundeskreis. Dass ich ihm verweigere, heute ein anderer zu sein, als der, der er war. Und dass ich nicht, oder nur zögernd, anerkenne, wer er heute ist.

Kommt eine Brise bildungsbehafteter Standesdünkel hinzu, mein Bruder ist ein einfacher Mensch in dem Sinn, wie „Studierte“ (ein Wort aus einer anderen Zeit) das gerne von Hauptschülern annehmen. Er könnte nicht halb so gut wie mein Bekanntenkreis begründen, warum es heute für ihn wichtig ist, Buddy zu sein. Er kann das fühlen, „irgendwie“ auch wissen, wortreich dafür eintreten kann er nicht. Dieses intuitive Wissen darum, wer er ist, muss ihm zugestanden werden. Auch von mir.

Womit wir wieder an der Theke stehen und ich mich unwohl mit mir fühle. Bei einem Namen zu bleiben, mit dem die Person sich nicht mehr identifiziert, ist nicht überzeugend, ist unzureichend. Sogar, oder vielleicht gerade dann, wenn es der eigene Bruder ist. Ich habe mich in der Situation zu recht unwohl gefühlt, nur verstanden habe ich es nicht. Aber heh, – besser spät, als nie – ich mache das in Zukunft anders. Buddy ist jetzt Buddy.

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Das Tagewerk als Update im Hauptartikel.

24962 – LTLYM – Aufgabe 45: Lies dein Lieblingsbuch aus der fünften Klasse erneut.

Angelegt an 24924

Aufgabe 45:
Finde ein Exemplar deines Lieblingsbuchs aus deiner Zeit in der fünften Klasse. Wenn du das Originalexemplar nicht finden kannst, versuche, ein Exemplar aus derselben Zeit zu finden. Lies das Buch erneut. Scanne oder fotografiere das Cover und schicke es uns. Bitte stelle sicher, dass wir alles auf dem Buchcover sehr deutlich sehen können und schneide nichts aus.

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Den Teil, wo ich versuche, ein physisches Exemplar aus der Zeit von vor 50 Jahren zu bekommen, habe ich ausgelassen. Obwohl das möglicherweise der spannendere Teil gewesen wäre!

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Es ist nicht einfach, den genauen Zeitpunkt einzugrenzen, an dem ich begonnen habe, die Ubique-Terrarum-Reihe von Herbert Kranz zu lesen. Aber ab elf lag ich abends neben meinem Vater im Ehebett (die Mutter schlief mit meinem Bruder im Wohnzimmer auf der Schlaf-Couch) und las „zum Einschlafen“ Drei-Groschen-Romane, bevorzugt G-Man Jerry Cotton. Damit imitierte ich meinen Vater, der soweit ich weiß, bis zu seinem Lebensende bei dieser Angewohnheit und diesem Genre blieb. Ich dagegen ging schon bald mit meiner Mutter in die öffentliche Bibliothek und bekam einen eigenen Leihausweis. Ich bekam Bücher von Jules Verne oder Hans Dominik empfohlen, und irgendwann eben auch die von Herbert Kranz. 

Ich zitiere die oben verlinkte Seite zur Reihe:

Herbert Kranz verfasste die zehn spannenden, mit viel Detailliebe erdachten Abenteuerromane [die ich alle gelesen habe, auch der Hang zur Vollständigkeit war schon früh erkennbar] von 1953 bis 1959. Die Reihe hat auch heute noch viele treue Fans.

Im Mittelpunkt steht ein sechsköpfiges internationales Team, das im Dienst der Londoner Gesellschaft „Ubique Terrarum“ (lateinisch „Überall auf der Welt“) Forschungsaufträge übernimmt oder Menschen aus Notlagen hilft. Dabei geraten die Teammitglieder in gefährliche Situationen. Sie stehen vor schwierigen Entscheidungen und müssen persönliche Bewährungsproben meistern. Die Aufträge führen die Männer unter anderem nach Afghanistan, in den brasilianischen Dschungel, auf eine Sträflingsinsel im karibischen Meer oder ins ewige Eis Grönlands. Nicht nur die extremen klimatischen Verhältnisse und das unwegsame Gelände beschwören abenteuerliche Situationen herauf. Oftmals versuchen auch mächtige oder durchtriebene Gegenspieler, die Pläne der Sechs zu durchkreuzen. Das Gelingen der Missionen hängt dabei vom funktionierenden Teamwork ab: Jeder der Sechs bringt seine Fähigkeiten zum Besten des Ganzen ein.

Wem das irgendwie bekannt vorkommt, Film-Reihen wie Mission Impossible oder TV-Serien wie Kobra , übernehmen sie!, später das A-Team oder Leverage funktionieren nach dem gleichen Muster: Ein internationales Team übernimmt gefährliche Missionen an exotischen Schauplätzen und ohne Teamwork geht gar nix. Soweit es mich betrifft, schaue ich da heute noch gerne zu.

24951 – Deins und meins

Schon bei der Demo gegen den Rechtsruck war mir ein ungewöhnlich umfangreicher Wandspruch aufgefallen, den ich aber zu keinem Zeitpunkt vollständig sehen oder lesen konnte, da ein beständiger Strom Demonstrierender den Blick versperrte. Aber wenn mein Interesse einmal geweckt ist, kann ich dranbleiben. Wenige Tage später bin ich abends nochmal dort vorbeigefahren, diesmal versperrten Mülltonnen und das geöffnete Tor die Sicht. Gestern endlich hatte ich auf dem Weg zum Nachtlicht die Muse, nochmal dort vorbei zu schauen. Und zu dokumentieren.

Ich nehm‘ das mal als Diskussionsbeitrag zur Abgrenzungsproblematik, da habe ich mit meiner Therapeutin ohnehin noch ein angelehntes Thema offen.

24847 – Shinjinmei – Hsin-Hsin-Ming – Meiselschrift vom Glauben an den Geist

Als ich 1999 im Zendo von Father Ama Sami war, fand ich in der Bücherei ein kleines, schön gestaltetes Buch mit der „Meiselschrift vom Glauben an den Geist“. Bei der Meiselschrift handeltes sich um ein altes zen-buddhistisches Gedicht, das Sengcan (Jianzhi Sengcan) zugeschrieben wird, dem dritten Patriarchen des Zen in China, der im 6. Jahrhundert lebte. Der Titel bezieht sich auf die Tradition, wichtige Schriften in Stein oder Holz zu meißeln, um sie auf diese Weise zu ehren und zu bewahren.

Im Buch standen jeweils zwei Zeilen mit chinesischen Schriftzeichen zusammen mit einer deutschen Übersetzung auf einer Seite. Die einleitenden Zeilen, von denen gesagt wird, dass sie die Essenz des folgenden seien, sahen so aus:


道本無難
唯嫌揀擇

­

Der Große Weg ist nicht schwierig,
für diejenigen, die keine Vorlieben haben.


Im weiteren Verlauf erfuhr ich, dass einer der Schüler dort an einer eigenen Übersetzung arbeitete. Und dass es noch deutlich mehr Übersetzungen gäbe. Zwei davon konnte ich finden und war überrascht, wie sehr sie sich voneinander unterschieden. Wieder zuhause machte ich mich an das überambitionierte Vorhaben, mir die für mich richtige Übersetzung zusammenzustellen. Ein Vorhaben, das ich schon bald aufgab.

Zur Illustration: auch dies ist eine Übersetzung der oben zitierten chinesischen Schriftzeichen.

Was mir blieb sind mentale Reste dessen, worüber ich damals nachdachte, und ein Bündel verwaschener DIN-A4-Blätter mit meinen Notizen. Im Wesentlichen geht es  um Nicht-Dualistische Denken und das Loslassen von konzeptionellen Unterscheidungen. Es gilt einen Zustand des Geistes zu erreichen, der frei ist von Anhaftung, Abneigung und Vorlieben.

Wir sollen erkennen, dass alle Unterscheidungen, Urteile und Dualitäten (wie gut vs. schlecht, richtig vs. falsch) die Quelle von Leiden und Missverständnissen sind. Um Frieden zu erlangen, sollte man alle dualistischen Ansichten loslassen

Das Festhalten an Meinungen und mentalen Konstrukten schadet, während Akzeptanz Freiheit und Frieden bringt, da der Geist nicht länger von Anhaftung oder Abneigungen aufgewühlt wird. Erwachen geschieht in einem einfachen Dasein jenseits konzeptioneller Vorstellungen.

So einfach ist das! Nicht.

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Die Meiselschrift endet mit folgenden zwei Versen:

Glaube an den Geist ist Nicht-Zwei,
Nicht-Zwei ist Glaube an den Geist.

Der Weg der Worte ist zu Ende –
keine Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart.

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PS
Diesen Text gibt es heute, weil ich gestern bei der  Bücherräumerei auf meine Notizen zur Meiselschrift gestoßen bin und mich genau zum richtigen Zeitpunkt daran erinnert fühle.