Heute probieren wir etwas Neues. Ich habe für die Kategorie g.mailt mehr oder weniger willkürlich eine Mail aus dem Schriftwechsel mit F² ausgewählt, einem Freund aus sehr, sehr frühen Tagen, den ich um 2009 herum kontaktierte und mit dem sich dann eine spannende Korrespondenz entwickelte, in deren Verlauf wir uns gegenseitig unser Leben erzählten.
Mail vom 18.1.09, Betreff: Interessante Fragen
Hallo F²,
fühle mich gerade stark genug, mich „auch interessanten Fragen“ zu widmen 😉 . Zitat: Damit kommen wir zu Fragen, die auch interessant sind, was erwartest Du für Deine kommenden noch verbleibenden Jahre […]? Das fragst Du vermutlich in aller Unschuld.
Jetzt, da ich versuche eine Antwort auf Deine Frage zu finden, bemerke ich, dass sie sich auf verschiedene Weise auffassen lässt. Erfragst Du meine Erwartung für die nächsten Jahre im Sinne einer Vermutung, wie ich die nächsten Jahre verbringen werde? Oder versteckt sich hinter der Frage nach meinen Erwartung auch die nach wie-auch-immer gearteten Zielvorstellungen? […]
Zielvorstellungen – beziehungsweise das Fehlen von Zielvorstellungen – ist DAS Thema überhaupt! Ich erinnere ein Foto, da stehst Du vor meinem ersten Auto (leider mit dem Rücken zum Fotografen). Dieses Auto steht für die sehr frühe Erkenntnis, dass wir nicht über Dinge, über Besitz glücklich oder doch wenigstens zufrieden werden können. Ich hatte mir viel versprochen von dem Zeitpunkt, da ich endlich ein Auto hätte. Und dann? Mit den Worten meines Lieblingslehrers: „Raider oder Twix, geändert hat sich nix!“ Rückblickend denke ich, dass diese Erkenntnis zu früh kam und auch jugendlich-kurzschlüssig war, sie hat mich davon abgehalten eine materielle Basis für mein Leben zu schaffen.
Geld oder Dinge zu haben war einfach keine Zielvorstellung, von der ich mir irgendwas erhoffte. Vielleicht erinnerst Du Dich, dass ich es ablehnte Kfz-Mechaniker zu werden, obwohl mich das mittelfristig zum Junior-Chef der Autowerkstatt meines Onkels gemacht hätte. Kurz: Materielles konnte mich noch niemals motivieren und ich habe mich selten unterversorgt gefühlt (eigentlich nur, als ich nicht für mich, sondern für die Kinder etwas mehr Geld gebraucht hätte).
Und wie steht es mit Ideen als Motivation? Schon besser, trotzdem hat sich auch in Bezug auf motivierende Ideen Ernüchterung eingestellt. Langfristig haben sie alle nicht durchgetragen. Anthroposophie, feste Partnerschaft, Gemeinschaftsleben, Basisdemokratie und Wagenleben, Buddhismus verschiedener Geschmacksrichtungen; fast nichts, das mich phasenweise begeistert
hat, habe ich nicht wieder verworfen oder doch so stark relativiert, dass es zur Motivation nicht mehr ausreicht.
Letztlich gibt es nur eines, das mich motiviert: Anerkennung, ernst gemeint und offen ausgesprochen. Das heißt zugleich, dass mich Menschen motivieren. Zumindest so lange, wie sie mir die tägliche Dosis Anerkennung nicht verweigern. Gib mir diese Droge und ich springe durch jeden Ring. Verweigere sie mir und ich gehe freudig-gekränkt in die Einsamkeit zurück. Es ist nicht immer Spaß, so zu leben und zu funktionieren, aber es ist, wie es ist.
So, die letzten drei Absätze dienen der ausführlichen Illustration einer einzigen Aussage: In der Vergangenheit haben sich mindestens vier Therapeuten und etliche besorgte Freunde ohne Ergebnis darum bemüht, mir irgendein Ziel abzuringen, dem nachzugehen ich bereit sei. Was auch immer, es ist nicht „überzeugend“. Dieses Wort, „überzeugend“, benutzt Doris Lessing in einem ihrer Romane um damit mögliche Liebesbeziehungen zu klassifizieren, manche sind es und andere nicht. Und welche uns überzeugen ist nicht immer rational nachzuvollziehen, manchmal sogar ausgesprochen unvernünftig oder schädlich. Mir geht es so mit Zielen, ich finde sie einfach nicht überzeugend. Der Schaden liegt bei mir, jeder weiß, dass Ziele Ausrichtung geben und helfen, ein vernünftiges Leben zu führen.
Am Besten fühle ich mich immer im näherungsweise sinnfreien Raum. Meditation ist so was, führt zu nichts und muss das auch nicht (obwohl mir da manche sehr widersprechen würden). [….] Oder lesen, wenn es nicht dem Studium dient. Irgendwas technisches auseinander nehmen um zu schauen, was drin ist (24925), vielleicht sogar zu verstehen, wie es funktioniert. Kunst anschauen wenn ich nicht drüber reden muss. Lange Emails schreiben, in denen ich mehr mir als irgendjemandem sonst erkläre, wer ich bin.
Ach ja, eigentlich auch lang genug für heute. […]
Liebe Grüße
G.