Winter halt!

2004-01-29-swim-im-schnee

Lieber F.

(…) Will noch kurz auf deine Mail eingehen. Der von Dir befürchtete „Kältetod“ war am Wagenplatz noch nie Option. Das Problem im Winter ist meistens gegenteiliger Natur, es ist zu warm. Die meisten unserer Ofen werden mit Holz und Kohle betrieben und lassen sich nur schlecht weit genug herunterregeln, um die Wagen nicht zu überheizen. Die Verwendung von Holz, manchmal Abfall-/Weichholz, das besonders viel Hitze freisetzt, verstärkt das Phänomen. Bedeutet: im Winter wechseln wir mehrmals am Tag aus dem überheizten Wagen in die untertemperierte Umgebung (und auch wieder zurück), was nach meiner Erfahrung nur die Widerstandsfähigkeit gegen Erkältungen erhöht.

Um ehrlich zu sein, die Nächte sind bei sehr tiefen Temperaturen ein Problem. Kaum ein Ofen brennt so lange durch, dass er bis morgens eine angenehme Temperatur hält. Oder überhaupt Temperatur hält, aufstehen bei Außentemperatur ist angesagt. Ofen anwerfen und dann … naja, wieder ins Bett, direkt zur Arbeit oder in den Gemeinschaftsraum zum Frühstück. Gut, den Gemeinschaftsraum zu haben, 30-cm-dicke Steinmauern, die am Morgen noch die Wärme des Abends ausstrahlen. Nach dem Frühstück ist dann auch die eigene Hütte warm. (…)

Nur in der Fremde …

1.11.1998, 27. Reisetag, 5. Brief

Liebe H, lieber M., liebe Ha.,

morgen ist ein besonderer Tag in zweifacher Hinsicht. Erstens ist mein Geburtstag und zweitens beginnt morgen die Workcamp-Zeit, die sicher (und hoffentlich) ganz anders sein wird, als es die zurückliegenden vier Wochen waren.

Vier Wochen bin ich nun schon in diesem Land unterwegs, Zeit genug für einen ersten Eindruck. Man sagt, man müsse dieses Land lieben oder hassen, dazwischen gäbe es nichts. Das scheint mir eine Vereinfachung, ich jedenfalls bin noch unentschieden. Und das allein schon deshalb, weil es hier so vielfältig ist. Nehmt nur die Landschaft, ich war in grün-saftigen Bergen, ich war in der Wüste, ich war in fruchtbarem Flachland und zum Schluss in einer Gegend, die von alldem etwas hatte, hügelige Ödnis mit Feldern zwischendrin.

Und auch der Menschenschlag, der diese Landschaften bewohnt, unterscheidet sich genug voneinander um Vorlieben oder Abneigungen ausbilden zu können. So einfach ist das also nicht mit dem Entweder-Oder.

[…]

2.11.1998

[…] Gefeiert habe ich im SCI Büro. Es gab einen kleinen Geburtstagskuchen und eine Kerze und drei furchtbar falschsingende Inder. Der Kuchen schmeckte fast deutsch und so etwas ist hier schwer zu finden, dazu gab es Kaffee, der gut zubereitet fast noch schwerer zu finden ist. Von daher war das „Fest“ ein voller Erfolg

Abends bin ich dann zur Jugendherberge, wo ich mich mit Das (dem Junggesellen, der mich eingeladen hatte) verabredet hatte. Er war wieder mit einer Schulmission unterwegs. Es hat gut getan, mit jemandem zu reden, den man schon kennt, wo es sich ein bisschen wie Freundschaft anfühlt. Zum Abschluss hat er mich eingeladen, ihn morgen zusammen mit einem Bus voller englischer Teenager und deren Lehrer nach Agra zu bekleiden und den Taj Mahal anzuschauen. Ich konnte das annehmen, weil morgen ein SCI-freier Tag ist. Und ich freue mich schon darauf.

Na und jetzt verbringe ich den Rest meines Geburtstages mit euch, indem ich euch diesen Brief schreibe.

[…]

Küsse
Günther

Spanien, Costa Dourada, Salou

Dieser Artikel wird noch ausgebaut. Was es schon gibt:

[…]

<O>

Zu diesen Bildern gibt es eine Geschichte, die Ihr mit etwas Pech auch in der Zeitung hättet lesen können. Jahre später habe ich sie einmal in einer Email erzählt.


28.07.09, Betreff:  RE Dies und das

Hi F²,

[…]

Du fragst nach meinen Erfahrungen mit dem Bergwandern. Nun, fast keine aber Lust drauf. 1998 war ich mit einer Gruppe von Bekannten und weniger bekannten Menschen in Spanien (Salou, ich müsste auf der Karte nachschauen, wie die Gebirgskette hieß, die sich wenige Kilometer landeinwärts erhob). [Dort] kam ich zu meiner ersten Bergwanderung, die mir ausgesprochenen Spaß machte und auch einige Passagen enthielt, wo wir nicht nur wanderten, sondern an eingeschlagenen Eisen kletterten, wie man das auf einer Leiter tut. Seitdem habe ich Bergwandern auf der Liste potentiell lohnender Aktivitäten.

Im Jahr darauf wollten wir in weniger fachkundiger Zusammensetzung das Vergnügen „freestyle“ wiederholen und sind aufs Geradewohl in die Landschaft gefahren. In einem Anfall von Übermut und mangels vernünftiger Wege beschlossen wir in einem trockenen Bachbett „etwas aufzusteigen“. Nach einiger Zeit kamen wir an eine Stufe im mittlerweile tief eingegrabenen Bachbett, wo ein Wasserfall sein musste, wenn der Bach Wasser führte. Diese Stufe lies sich mit wenig Aufwand überwinden, wenn wir auch etwas klettern mussten. Bald kam eine zweite gleichartige Stufe, diesmal hatten wohlmeinende Menschen ein Seil hängen lassen, mit dessen Hilfe die schwierigsten Stellen zu bewältigen waren. Die Mutigsten probierten sich aus, die weniger Mutigen sahen, dass es ging und folgten. Neun Leute, zum Teil in Straßenschuhen und mit lustig schlenkernden Umhängetaschen, überwanden also auch diese Stufe, unausgesprochen wissend, dass sie diese Stufe nicht abwärts klettern könnten. Ahnst Du es schon? Natürlich kam die nächste Stufe und sie war steiler als die beiden vorangegangenen. Wir saßen in einem tiefen Hohlweg fest, vor und hinter uns jeweils ein trockener Wasserfall. Es war eine dieser Situationen, von der du in der Zeitung liest und dich fragst, wie neun – so viele, denkst du kurz –  normalerweise vernünftige Menschen in so etwas hineingeraten und dir sicher bist, dir selbst würde so etwas niemals geschehen.

Irgendwann begannen wir die steilen und hohen Seitenwände des Hohlweges hinauf zu klettern, von allen Möglichkeiten diejenige, die uns am aussichtsreichsten erschien. Dass an diesem Tag nichts geschah und wir nach einiger Anstrengung auf einen Weg zurück fanden, ist einfach nur unserem Glück zu verdanken. Einmal rutschte einer von uns eine Strecke von fünf oder sechs Metern ab und wurde nur durch einen einzel stehenden Baum aufgehalten. Ein anderes Mal mussten wir eng mit dem Rücken an die Bergwand gepresst eine Stelle passieren, an der es fünf Zentimeter vor unsern Fußspitzen (gefühlte zweieinhalb) einfach nur bergab-bergab-bergab ging. Zwei Schritte seitwärts nur, aber nach dem ersten hatte ich einen leisen Anflug von Panik, den ich unterdrücken konnte, weil es nur zwei Schritte waren und keine drei oder vier. Eine Erfahrung, die ich nicht wiederholen möchte. Seitdem habe ich Bergwandern auch in der Liste der Aktivitäten, auf die man sich gefälligst vernünftig vorbereitet.

Konkret, solltest Du demnächst einen Wanderkameraden suchen lohnt die Anfrage. Meine Wanderschuhe habe ich mehrere Jahre nicht mehr getragen und sie haben das Geld, das sie kosteten noch lange nicht „wiedereingewandert“. Ob die Alpen oder der Jakobsweg ist zweitrangig. Vermutlich werden Zeit und Geld die wichtigere Rolle bei der Entscheidung spielen.

[…]

Genug für heute,
Fühl Dich zur Semi-Spontantät ermutigt,
Liebe Grüße
G.


to be continued

Zeltlager

Liebe Mutti and Papi! Sind gut angekommen. Heute gab es Schmelzkartoffeln, rote Bete und Rührei. In 2 St. machen wir das erste Geländespiel. Die zwei Gruppen bauten sich gestern ihre Festungen. Unsere Festung ist gut versteckt. Nun will ich erzählen, wie das Spiel geht: Jeder Spieler kriegt ein "Lebensbändchen". Jede Gruppe kriegt einen Wimpel, die müssen wir uns gegenseitig abjagen. Zum Frühstück gibt es immer Kaffee. Herzliche Grüße Euer Günther

Liebe Mutti and Papi!

Sind gut angekommen. Heute gab es Schmelzkartoffeln, rote Bete und Rührei.

In 2 St. machen wir das erste Geländespiel. Die zwei Gruppen bauten sich gestern ihre Festungen. Unsere Festung ist gut versteckt. Nun will ich erzählen, wie das Spiel geht: Jeder Spieler kriegt ein „Lebensbändchen“. Jede Gruppe kriegt einen Wimpel, die müssen wir uns gegenseitig abjagen.

Zum Frühstück gibt es immer Kaffee.

Herzliche Grüße Euer
Günther

Wenn Ihr über das „Making of“ hierher gekommen seid, dann wisst Ihr schon, dass ich knapp neun Jahre alt war, als ich den oben abgebildeten Brief geschrieben habe. Soweit ich weiß, ist es der erste überhaupt und ich finde ihn – mit einigen kleinen, notwendigen  Korrekturen – ganz annehmbar. Und wie elegant ich mit Essen begonnen und mit Trinken geendet habe. Schon damals den Fokus immer auf die wichtigen Dinge gesetzt.

Stichwort damals, jede einzelne Erinnerung, die ich an dieses Zeltlager habe – und das sind erstaunlich viele, verglichen mit dem Fehlen von Erinnerungen, die ansonsten diese Zeit kennzeichnet – zeigt, wie sehr diese Zeiten „andere“ waren. „Zum Frühstück gibt es immer Kaffee“, schreibe ich, beachte: für Neunjährige. Bei näherem Nachdenken will ich glauben, dass es sich um irgendein kaffeeartiges Getränk handelte, das uns als Kaffee angeboten wurde. Mir hätte es bestimmt am benötigten Unterscheidungsvermögen gefehlt.

Den Kaffee gab es in einem großen Küchen- und Esszelt, in dem eine Anzahl von Biertischen und -bänken stand. Eine Essenstheke mit Thermosbehältern für Kaffee und unerinnerten Tee. Was es auch gab, waren Lautsprecher für Musik und Durchsagen. Oder eines Morgens die Aufnahme eines nächtlichen Zeltgespräches, das die Betreuer, selbst noch Jugendliche, nachts heimlich durch die Zeltwand aufgenommen hatten, und nun der Lageröffentlichkeit zugänglich machten. Heute ist das ein Straftatsbestand, damals war das vor allem peinlich. Unter anderem mir, ich gehörte zu den Aufgenommenen, auch wenn ich das zuerst nicht merkte, lange zuhörte, bis eine Passage kam, die ich eindeutig als „meine“ erkannte, obwohl mir die Stimme seltsam fremd und piepsig vorkam. Sicher war ich mir erst, als ich mich ein zweites und drittes Mal hörte. Und was ich hörte gefiel mir nicht, gar nicht. Das Phänomen, die eigene Stimme auf Aufnahmen „fremd“ zu finden, kennen vermutlich die meisten, für mich war das damals die erste Begegnung damit und ich hätte gerne darauf verzichtet.

Das Zeltlager lag in einem Tal, vielleicht auch nur einer Lichtung, auf einer Wiese, die von Wald umgeben war, idyllisch ergänzt von einem Bach. Zehn bis zwölf Schlafzelte für jeweils sechs bis sieben Kinder (auch sechs Kinder und ein Betreuer wären möglich, es ist lange her), alle im Kreis um einen Fahnenmast aufgestellt, etwas abseits die Zelte für die Infrastruktur, noch entlegener der Donnerbalken.

Der Donnerbalken muss heute vermutlich erklärt werden, er ist die damalige Entsprechung zum Dixie-Klo, verzichtet aber komplett auf Wände und Chemie. Zwei Baumstämmchen werden aufrecht im Abstand von cirka eineinhalb Meter etwa oberschenkelhoch in den Waldboden geschlagen, darauf wird horizontal ein Balken genagelt und unmittelbar dahinter eine Grube gegraben.  Jetzt kann man sich mit heruntergelassen Hosen auf den Balken setzen und in die Grube scheißen. Für die, die auf dem Balken sitzend nicht mehr mit den Füßen auf den Boden kommen, gibt es eine weitere in den Waldboden geschlagene und sehr viel höhere Stange, ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter vor dem Donnerbalken. Damit lässt sich das Gleichgewicht halten und das Toilettenpapier hängt auch daran.

Ich erinnere einen einzigen Versuch, diese „Toilette“ zu verwenden, ich gehörte zu den Kleineren und kam eindeutig nicht mit den Füßen auf den Boden, es stank und wie man sich gleichzeitig den Hintern abwischt und das Gleichgewicht hält, fand ich herausfordend. Hinzu kam das Fehlen eines jegliche Sichtschutzes, vielleicht weil wir ohnehin nur Jungs waren.

Und wir spielten echte Jungsspiele, heute würden wir sagen Krieg. Den Spielaufbau habe ich im Brief schon angedeutet, zwei Gruppen mit jeweils einer Festung und einem Wimpel, den es zu verteidigen gilt. Jeder der Mitspieler hat ein farbiges Lebensbändchen ums Handgelenk, das einerseits die Gruppenzugehörigkeit signalisiert und andererseits bei Verlust dazu führt, nicht mehr mitspielen zu dürfen. Da laufen nun also Gruppen von Kindern durch den Wald (wo waren da eigentlich die Betreuer?), die versuchen, sich gegenseitig zu überfallen und die Bändchen von den Handgelenken zu reißen. Ersatzweise einzel oder in der Gruppe mit angemessenem Körpereinsatz die Festung der Gegner zu stürmen und den Wimpel zu erobern. Was kann da schon schiefgehen?

Kurz, das war kein Spiel für mich. Ich bin schon mit fünf eingeschult worden und war schon aus diesem Grund immer einer der Jüngsten, oft auch einer der Kleinsten, in Klassen- und sonstigen Verbänden. So lernt man, Raufereien besser zu vermeiden, die Sache mit den Lebensbändchen war so gar nicht mein Ding. Ich glaube, ich bin sehr früh und mit wenig Gegenwehr ausgeschieden.

Interessanterweise erinnere ich wenig wirkliche Angst, obwohl wir in einer „gefährlichen“ Lage waren. Uns wurde gesagt, eine andere Zeltlagergruppe, die gar nicht so weit von uns entfernt lagern würde, wolle uns überfallen. Aus diesem Grund mussten wir eine Nachtwache einrichten, in Schichten zu zwei Stunden liefen nachts jeweils zweimal zwei Jungs rund ums Lager. Ich hielt das schon damals für eine Geschichte, auf kindliche Weise war mir ein Überfall unplausibel. Warum sollten die das tun?

Und es gab den „Bösen Marabu“, wer ihm begegnete, endete über und über mit Zahnpaste beschmiert mitten in der Nacht im Bach, wo er sich säubern müsste. Die Sache mit der Zahnpaste war mir ein klarer Hinweis darauf, dass da eher übermütige, jugendliche Betreuer  am Werk waren, als schlecht benannte Fabelwesen. Obwohl es unwahrscheinlich ist, glaube ich, dass ich mit kurz vor neun irgendwo aufgeschnappt hatte, dass der Marabu ein Storchenvogel ist, gewiß groß, aber sicher nicht böse.

Andere waren vielleicht nicht ganz so stabil, zumindest einer meiner Zeltgenossen endete nächtens im Bach. Aber nicht, weil der Böse Marabu am Werk war, sondern weil er sich im Schlaf eingeschissen hatte. Damals hatte ich dazu keine Meinung, heute denke ich, dass das Zeltlager selbst jede Sorte von Schließmuskelschwäche begünstigte.

Ich selbst fand mich auf der anderen Seite des Spektrums. Nach meinem oben geschilderten ersten Versuch auf dem Donnerbalken ging ich nicht mehr auf’s Klo, bekam nach einer Woche Fieber und musste von meinen Eltern abgeholt werden.  Und war kein bisschen böse darüber.