Berlin 2023, erste Woche

Woche <1>, 2, 3 und 4

15.12.2023, Freitag
Ich komme gegen 7.00 Uhr mit dem Nachtbus in Berlin an, die Ringbahn bringt mich in fußläufige Nähe meines ersten Ziels, die Wohnung meiner Tochter Hannah. Wir frühstücken zusammen, bis sie gegen 9.00 Uhr ins Home-Office verschwinden muss, also da, aber nicht verfügbar ist. Ich vertreibe mir die Zeit damit, die App des Berliner Nahverkehrs herunterzuladen und ein Monatsticket zu buchen, gültig für vier Wochen ab gleich und jeden Werktag erst ab 10.00 Uhr morgens nutzbar (kostet 67,00 Euro und ist damit günstiger als zwei Monate des 49-Euro-Tickets, was zunächst der Plan war). Wer will schon vor zehn unterwegs sein?

Dann ist es auch schon zehn und ich wechsle mittels meines neuen Tickets und der S-Bahn in meine Bleibe für die nächsten vier Wochen, die Wohnung von Hannahs Freund. Er ist beruflich in dieser Zeit unterwegs und offen genug, mir für diesen Zeitraum seine Wohnung zu überlassen. Es ist eine Ein-Raum-Wohnung, die mir  ausnehmend gut gefällt. Hier hat jemand mit Willen zu persönlichem Stil eingerichtet, ohne dass das  gekünstelt oder (zu) gewollt aussieht. Wer den zur Wohnung gehörigen Mensch kennt, kann sich beides sehr gut zusammen vorstellen.

Ich benötige einge Zeit um mein Zeug in der Wohnung zu verteilen, schnell wird aus einer aufgeräumten Wohnung eine etwas weniger aufgeräumte. Der Laptop wird an den Start und das WLAN gebracht und die Streaminganbieter müssen erstmals darauf lauffähig gemacht werden. Zwischendrin biege ich unerwartet zu dem Versuch ab, Bard (Googles Antwort auf ChatGPT) einen Berlin-Limerick abzuringen, woran er (vermutlich mehr ein es, aber lassen wir es mal dabei) krachend scheitert, obwohl ich wirklich nicht mit Nachhilfe spare.

Irgendwann danach gehts zum nahegelegen Discounter um einen Grundstock an Lebensmitteln einzukaufen. Kurz vor fünf komme ich zurück, gegen sechs lege ich mich ins Bett und schlafe bis neun. Das war erwartbar, ich hatte während der Fahrt im Bus nicht geschlafen, nicht wie in gar nicht.

Ausgeschlafen verbringe ich den Rest des Abends ganz ähnlich, wie ich das auch zuhause täte, Serienkonsum und Blog-Getippe. Letzteres etwas aufwändiger als zuhause, weil ich den Monatsüberblick vorziehe, den ich abgeschlossen wissen will, bevor es hier mit aktuellerem Inhalt weitergeht.

Jetzt ist streng genommen schon morgen und ich bin bereit für Berlin, Futter im Kühlschrank, unbeschwerter öffentlicher Nahverkehr gesichert und alles gelebte Leben verbloggt. Es kann losgehen.

16.12.23, Samstag
Gegen zehn mit Wecker aufgestanden. Meine Morgenroutine mit Kaffee und elektronischer Zeitung lässt sich problemlos auf die Verhältnisse hier übertragen. Der Kaffee ist ein anderer (darüber wird noch zu berichten sein) und der PC ist mein Laptop, ansonsten ist alles wie gewohnt. Obwohl, es ist deutlich heller, die Fenster sind deutlich größer und die Vorhänge zurückgezogen. Die Sonne spiegelt sich in den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses und will mir irgendetwas mitteilen, vielleicht sogar etwas mit Aktivität.

Gegen zwölf öffne ich zum ersten Mal eine Seite mit aktuellen Berliner Ausstellungen. Hannah und ich wollen gemeinsam etwas unternehmen und sind in der Abstimmung via Messenger. Weil sich nichts so wirklich in den Vordergrund drängt, beschließen wir zu einem Weihnachtsmarkt zu bummeln (der in der Kulturbrauerei, ich war dort schon einmal) und von dort aus weiterzusehen. So startet der Tag.

Der Treffpunkt ist für beide von uns mit einer kurzen Fahrt in der Tram zu erreichen, von dort bummeln wir los. Die meiste Zeit, auch später auf dem Weihnachtsmarkt, sind wir mehr im Gespräch als bei unserer Umgebung. Es gibt genug zu erzählen. Der Weihnachtsmarkt ist glücklicherweise nicht sehr voll, wir können uns die Unaufmerksamkeit leisten. Eine kurze Rast machen wir bei Kinderpunsch und Chai in einem geheizte Zelt, das vorgibt, eine Jurte zu sein. Ich bin nicht überzeugt, aber es ist warm und gemütlich. Wir sitzen dort eine Weile und plaudern, dann ziehen wir weiter.

Im Gespräch haben sich unsere nächsten Anlaufpunkte ergeben, im Wesentlichen der Einkauf von ein paar Dingen, die ich für einen gelungenen Berlinaufenthalt noch brauche. Schon beim Packen des Rucksacks war mir klar, dass ich ich ein zusätzliches wärmeres Oberteil benötigen würde. Ein guter Anlass, eine Gebrauchtkleiderverkaufsstelle zu suchen und nebenbei Berlin zu erkunden. Erkunden war nun unnötig. Der Ort der Wahl war von M. schon erkundet und nur eine kurze Tramfahrt entfernt. Wie es sich herausstellt gibt es dort viel mehr als Kleidung, eigentlich alles. Unter anderem auch einen Wasserkocher für wirklich kleines Geld, den ich benötige, weil der aus M.s Wohnung gerade bei Hannah aushilft. Und das wärmere Oberteil bekomme ich auch.

Eine ungeplante Ersatzbeschaffung sind die Schuhe. Die, die ich als einziges Paar dabei habe, sind an einer Stelle so durchgelaufen, dass Feuchtigkeit eindringt. Dass es soweit kommen konnte, ist einer Mischung aus Ignoranz und Keinen-Bock-auf-Schuhe-kaufen geschuldet, aber heute ist es vergleichsweise einfach. Der angesteuerte Schuh-Discounter hat gleich zwei Paare, die das Anprobieren wert sind und erstaunlicherweise ist es das günstigere, in dem ich besser laufe.

Schuhe kaufen ist schwierig seit mir die Archillessehne den Dienst verweigert. Ich setze auf der lädierten Seite sehr hart mit der Ferse auf und der fehlende Druck auf dem Vorderfuß macht das kontrollierte Abrollen und -stoßen unmöglich. Absatz und Sohle müssen also möglichst weich sein und den Abrollvorgang unterstützen, die wenigsten Schuhe tun das. Ende Exkurs Schuhe-kaufen.

Pulli, Schuhe, Wasserkocher, ein unerwarteter und unerwartet erfolgreicher Jagdausflug. Im weiteren gibt es noch Lebensmittel und Zeichenkarton für Hannah, wir trennen uns gegen halb sechs mit einer Verabredung für morgen am frühen Nachmittag zum Flohmarkt.

Ich beginne den Abend mit Bewegtbildkonsum, schlafe aber gegen acht auf dem Schreibtischstuhl ein, schaffe mich ins Bett und schlafe bis zwölf, lese bis eins, stehe auf, um etwas zu essen, bin wach. Dann kann ich auch schreiben, dieser Text entsteht in Nachtarbeit.

17.12.2023 SonntagIch schlafe bis elf, trödle in denTag und bin ab eins auf dem Weg zu Hannah. Da ich schon in der richtigen Tram Richtung Flohmarkt sitze steigt sie bei sich vor der Haustür zu. Plaudenderweise weiter bis zum Flohmarkt, auf dem Weg dorthin schauen wir noch in den einen oder anderen Laden. Der Flohmarkt selbst ist belebt, aber nicht voll, schauen und plaudern gelingt zur gleichen Zeit. Wir drehen eine entspannte Runde und fahren zurück zu ihr.

Dort bleibt es entspannt, bei Tee, einem duftenden Luftbefeuchter und beleuchtetetem Weihnachtsbaum schauen wir „Chicken Run“, einen Knetfigurenfilm. Der Film ist ab 6 Jahren freigegeben und vielleicht sind wir etwas zu entspannt, wir beide schlafen mehrfach während des Films ein. Dann ist das halt so.

Gegen Abend breche ich „nachhause“ auf, Hannah verbindet das mit der Hunderunde und bringt mich noch bis zur S-Bahn. Die letzten Meter bis zu M.s Wohnung sind mittlerweile gut geübt, ich wage es, die erste Variation einzubauen und esse einen Döner für die Nacht.

Zurück in M.s Wohnung, „zuhause“, geschieht nicht mehr viel. Etwas Medienkonsum und Dokumentation des Tages, früh ins Bett.

18.12.2023, Montag
Montag ist Ruhetag. Nicht nur bei mir, auch alle Berliner Museen haben geschlossen. Dementsprechend sehe ich keine Veranlassung, das Haus zu verlassen. Oder fast keine, für den Lebensmitteldicounter um die Ecke reicht’s noch, irgendwann am Nachmittag. Das ist genug Herausforderung.

Es ist bemerkenswert, was eine fremde Umgebung an zugegeben niedrigschwelligen Herausforderungen bietet. Heute also eine andere Sorte Fertigpizza, die auf der Packung dazu rät, sie nicht antauen zu lassen. Natürlich lasse ich sie antauen. Aus dem was folgt, hätten Stummfilmkomiker eine schöne Slapstick-Nummer entwickelt. Ich bewältige den widerständigen Transfer auf den Rost des Gasbackofens mit deutlich weniger Humor. Fun fact: Das Zünden des Backofen gelingt näherungsweise problemlos, wenn man den richtigen Drehknopf betätigt.  Während ich mich noch mit dem falschen Drehknopf beschäftigt halte, erinnere ich mich daran, dass meine Mutter den Gasbackofen immer mit einem Fidibus entzündete. Ich vermute, heute weiß kaum noch jemand was ein Fidibus ist, selbst bei meiner Mutter sah der deutlich anders aus, als das auf Wikipedia beschrieben ist. Zur Not hätte ich mir durch Lebenserfahrung und den Rückgriff auf alte Kulturtechniken also zu helfen gewußt. Aber die Sache mit dem Drehknopf macht es deutlich einfacher.

Ansonsten geschieht nicht viel, ich schaue mir die Webseiten mit den aktuellen Ausstellungen an, suche mir auch einige heraus, die ich mir in den nächsten Wochen anschauen werde, aber es ist wenig dabei, was mich wirklich anspricht und zieht. Alles mehr so Zeitvertreib – gut, auch den soll man nicht geringschätzen.

Auf den Plan kommt für morgen das Kunstgewerbemuseum, das kommt meinem Bedürfnis, mir einfach nette Dinge anzuschauen, gerade am nächsten.

19.12.2023, DienstagHeute also das Kunstgewerbemuseum.

Aber vor den Spass haben die Götter das Aufstehen und die Anfahrt gesetzt. Beides nicht ganz ohne Widrigkeiten heute, dennoch kann ich am Ende des Tages sagen, dass alles gut war, wie es war. Das Problem war ein letztlich unnötiger Zeitplan, der besagte, dass ich früh genug aufstehen müsse, um im Museum eine Kernzeit von zwei Uhr mittags bis sechs Uhr abends zu haben. Der Wecker, also das Phone, klingelt, also melodiert, um elf. Ab jetzt also zwei Stunden Zeit bis zur geplanten Abfahrt um eins. Das ist gefühlt zu wenig. Real auch, weil ich noch den Eintrag für gestern nachzuholen habe. In der Folge bin ich etwa zwanzig Minuten zu spät und davon gestresst.

Kommt erschwerend hinzu: es pisst. Ein wenig nur, mehr so ein pisseln. Als ich aus der Haustür gehe, bin ich davon überrascht und kurz davor, einfach zuhause zu bleiben. So war das nicht verabredet. Regen kann ich überall haben, dafür muss ich nicht nach Berlin. Natürlich gehe ich trotzdem los.

Andere finden Regen auch blöd und kommen damit klar, mir gelingt es letztlich auch.

Um es vorwegzunehmen, ich bin um viertel nach zwei im Museum und verlasse es zwanzig vor sechs, das sind rund dreieinhalb Stunden, die deutlich ausreichen. Nicht um alle Exponate angemessen zu würdigen, aber um müde, schmerzende  Füße zu haben und mit der Aufnahmefähigkeit am Ende zu sein. Als Erkenntnis lässt sich das Verallgemeinern, drei Stunden irgendwas plus An- und Abfahrt sind genug. Alles, was darüber hinausgeht, beginnt unangenehm zu werden. Anders zu planen und/oder im Verzugsfall rumzustressen ist völlig unnötig.

Das Museum kommt dem Bedürfnis, mir einfach nette Dinge anzuschauen, mehr als entgegen, über vier Stockwerke verteilt zeigt es ein Übermaß an bemerkenswertem Kunsthandwerk. Mode und Design als benachbarte Disziplinen bekommen umfangreiche eigene Abteilungen.

Elfenbein, Holz, Metall, Glas, alles im Überfluß und in einem Detailreichtum, dass es irgendwann nicht mehr zu fassen ist. Vielleicht deswegen fühle ich mich am wohlsten in der Design-Abteilung, die Exponate sind zumindest in Teilen vertraut, der (zumeist industrielle) Aufwand der Herstellung ist einzuschätzen, manche Dinge könnte ich besitzen. Hier mache ich auch die meisten Fotos.

Sammlungen, ich liebe Sammlungen. Alles ist besser, wenn es Teil einer Sammlung ist.
„Die billige Wohnung“, so vertraut, der Tisch, die Stühle.
La Chaise von Charles und Ray Eames (1948 für den Wettbewerb Low Cost Furniture Design des Museums of Modern Art).

La Chaise ist mein Favorit, ich habe es gerade nachgeschaut, für schlappe 9.000 Euro könnte das Prachtstück in meinem Dome stehen. Gebraucht für 6.000, das ist immer noch üppig. Man muss nicht alles haben.

An zweiter Stelle im Anzahl-der-Fotos-Ranking steht die Sonderausstellung zu Jos´e Canops, dem Hoftischler von Karl dem III. Find‘ ich gut, eine Ausstellung für einen Handwerker. Klar, der König muss auch erwähnt werden, der hat gezahlt und bei ihm stand das Zeug dann rum, aber im namensgebenden Mittelpunkt der Ausstellung steht der Handwerker.

Muss ich ausdrücklich erwähnen, dass ich diese Möbel nicht schön finde, sondern sie bewundere, weil sie so unglaublich gut und aufwändig gearbeitet sind? Gut.

Als ich aus dem Museum komme nieselt es immer noch oder schon wieder. Zu meiner Verwirrung hat die Karten-App Aussetzer und ich bin gezwungen, mit minimaler Assistenz nachhause zu finden. Das macht mein Leben für einen kurzen Moment spannend, eine erzählenswerte Geschichte will aber daraus nicht werden. Am Ende ist alles gut und ich komme ohne Umweg dort an, wo ich gestartet bin.

20.12.2023, Mittwoch
Der Tag gestern ging mit Schreiben, gemäßigtem Medienkonsum und langem Im-Bett-lesen zuende. Vielleicht weil der Nachmittagsschlaf ausfiel, ich mich tagsüber wirklich müde gelaufen hatte und trotzdem lange wach war, schlief ich seit langem eine Nacht mit nur einer kurzen Unterbrechung durch. Meint: keine längere Lesepause, die die Nacht in zwei Nächte teilt. Soviel auf der Plusseite.

Auf der Minusseite stehen leichte Schmerzen im rechten Fußgelenk und ein spürbar belastetes Knie. Letzteres habe ich in der Nacht, in diesem halbbewußten Zustand, wie wir ihn beim Einschlafen oder Aufwachen erleben, schon gespürt („Ah, Knie im Reparaturmodus!“).

Morgens bestätigt der kurze Weg in die Küche den Plan, es heute etwas langsamer anzugehen. Ich fühle mich so alt wie ich bin. An manchen Stellen auch älter. Ein Kurzstreckentag.

Für solche Tage wollte ich mich auf Maps verlassen, „Sehenswürdigkeiten in der Nähe“ anklicken, selbstverständlich welche finden und dann hinlaufen (oder mit wenigen Tramstationen anfahren). Zeigt sich: „Sehenswürdigkeiten in der Nähe“ gibt es nicht mehr, an dieser Stelle ist jetzt mehr Eigeninitiative gefragt, und nach entsprechender Eingabe bekomme ich genau eine Sehenswürdigkeit angezeigt, die mir nahe genug ist, der Platz des 9. November. Zeigt sich weiterhin: Da war ich schon. Gut, nicht genau da, aber sehr in der Nähe, ich bin dort gestern umgestiegen, zweimal. Und werde da auch noch öfter umsteigen, es ist vorauszusehen. Und dann, aber wirklich erst dann, werde ich mir den Platz auch mal ansehen.

Aus dem Kurzstreckentag ist die Kurzstrecke gestrichen, es bleibt ein Tag. Ich schaue aus dem Fenster.

<O>

Der Tag vergeht vor dem Laptop, das ist okay, ich will ja genau diese Möglichkeit, mich tageweise genau wie zuhause am Platz zu verhalten. Und heute ist so ein Tag.

21.12.2023, Donnerstag
Der Tag vergeht ruhig. Am Abend kommt Hannah zu mir in die Wohnung, wir sind zu einer Vorstellung im Starken August verabredet. Aber zuerst eine Kleinigkeit essen und plaudern.

Der Starke August ist eine Mischung aus Kneipe, Bar und Veranstaltungsort, jeden dritten Donnerstag gibt es dort „Zirkus“, drei Menschen präsentieren auf der winzigen Bühne eine Clownsnummer mit Jonglage- und Zaubereinlagen. Wir haben unseren Spass daran, weil wir es wollen und weil das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt.

Irgendwann im Laufe des Abends kommt eine Bekannte von Hannah mit einer Hand voll wirklich häßlicher Weihnachtsbrillen vorbei und bietet uns an, damit Fotos von uns zu machen. Ja, klar!

Hier geht’s mit der zweiten Woche weiter.

Aufenthalt im Boddhi Zendo – Teil 3

Schon im Dezember des letzten Jahres bin ich mit der Bearbeitung des dritten und letzten Teils meiner Zendo-Tagebücher fertig geworden. Dann wurde ich durch eine Folge gesundheitlicher Probleme abgelenkt und erst jetzt, rund drei Monate später, habe ich den Kopf wieder frei genug für Autobiografisches.

Dieser dritte Teil unterscheidet sich sehr von den zwei vorherigen Teilen. Die Unterschiede ergeben sich vor allem daraus, dass ich nicht als Alleinreisender dort war, sondern gemeinsam mit meiner damaligen Freundin anreiste. Die Idee, die Zeit im Zendo gemeinsam zu verbringen, war wenige Tage zuvor spontan aufgetaucht, wir waren unterwegs in Sri Lanka und es bedurfte nur der Umbuchung einiger Flüge von Seiten der Freundin, um den Einfall umzusetzen. Ich weiß nicht mehr, was wir erwarteten, aber wir bekamen, was erwartbar gewesen wäre, Beziehungsarbeit.

In der Bearbeitung habe ich alles gekürzt, was zu sehr in die Details unserer Auseinandersetzungen ging (und sich mit weniger freundlichen Worten auch als peinliche, unreife Scheiße bezeichnen ließe). Erhalten habe ich die Teile, in denen ich nicht über sie, sondern von mir schreibe (zugegeben mit einer regelbestätigenden Ausnahme).

Weitere Kürzungen gibt es dort, wo es um die Koans ging, warum das so ist habe das schon im Vorwort zum ersten Teil erläutert. Andererseits war ich vermutlich nicht ganz so konsequent wie in den ersten beiden Teilen.

Und da ich insgesamt sehr viel weniger geschrieben habe, als während der ersten beiden Aufenthalte, ist dieser dritte Bericht auch sehr viel kürzer. Vieles aus dem Zendo-Leben musste nicht mehr beschrieben werden und insgesamt war ich sehr viel mehr mit anderen Menschen beschäftigt als mit mir. Ich will das nicht werten.

Eine Sache möchte ich noch erwähnen, die ich damals erstaunlich fand und auch heute noch erstaunlich finde. Es ist die Tatsache, das uns auf Anfrage vollkommen unkompliziert ein zweites Bett in mein Einzelzimmer gestellt wurde, wir also in einem unserer Zimmer ein Doppelbett hatten. Doppelzimmer gibt es im Zendo nicht, es gibt sehr viele Einzelzimmer und einen Gruppenschlafraum. Auch deswegen hatte ich eher einen klösterlichen Ansatz erwartet, aber halt trotzdem gefragt. Und wurde überrascht, Zen eben:

„Offene Weite, nichts von heilig.“

Aufenthalt im Boddhi Zendo – Teil 2

Heute habe ich den zweiten Teil der Zendo-Tagebücher, den Aufenthalt im Jahr 2000, eingestellt. Das ist rund 1 Jahr später als gedacht und 2 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Teils.

 

Dieser zweite Teil unterscheidet sich wesentlich vom ersten Teil. Das Leben im Zendo wird kaum noch geschildert, stattdessen liegt der Schwerpunkt auf meiner jeweiligen Befindlichkeit. Fiebrig, erkältet, einsam, voller Selbstzweifel, identitätskriselnd und grenzdepressiv,  im Kampf mit Sex & Crime oder der Außenbewertung, alles dabei.

Wer sich noch nie mit Zen beschäftigt hat, wird hier wenig darüber erfahren, Praktizierende aber (oder solche, die viel darüber gelesen haben) werden vieles davon wiedererkennen. Sich dem zu stellen, was in uns auftaucht, wenn wir zur Ruhe kommen (wollen), ist Teil des Weges und die Aufgabe besteht darin, es zunächst sein und dann gehen zu lassen.

Einige der oben angesprochenen Themen begleiten mich bis heute. Das ist nicht der Zen-Praxis anzulasten, zuerst, weil ich nicht praktiziere, besonders aber, weil es nicht Ziel der Praxis ist, uns auf wundersame Weise leidensfrei zu machen.

Das ist eine starke Aussage, der manche widersprechen würden. Ist nicht die Befreiung vom Leiden das zentrale Thema im Buddhismus? Ich will diese Diskussion nicht führen (habe auch keinerlei Kompetenz, das zu tun), nur eine Idee zum Selbst-weiterdenken: Meditationspraxis löst nicht das Leiden auf, sondern die Ich-Illussion des Leidenden. Auch dafür gibt es zarte Hinweise in den Tagebüchern, wenn man sie aufzufassen weiß.

Einführung zum ersten Teil
Reisetagebuch Indien, Boddhi Zendo, 25.1. bis 25.2.1999
Einführung zum zweiten Teil (dieser Text)
Reisetagebuch Indien, Boddhi Zendo, 12.1. bis 7.2.2000

Europa Level 75

Ich mag solche Übersichten, obwohl sie in ihrer Vollständigkeit fast schon irreführend sind. Österreich ist nur drin, weil dorthin die Abschlussfahrt der Berufsfachschule ging. Ist fast fünfzig Jahre her. Aktueller, aber ebenso schwierig in der Einordnung, ist die Woche in einem Tagungshaus, das nur zufällig in Luxemburg lag.Auch die Abgrenzung zwischen „stayed here“ und „visited here“ ist für englische Muttersprachler vermutlich einfacher. Das Internet gab bei oberflächlicher Recherche nicht allzuviel dazu her. Ich habe das dann für mich in aller Unschärfe entschieden: „to stay“ ist plus/minus eine Woche.

Aufenthalt im Boddhi Zendo in Indien

Eine Art Vorwort

Schon im letzten Winter begann ich mein Indien-Reisetagebuch aus dem Jahr 1998 mittels Spracheingabe zu digitalisieren und vor wenigen Tagen habe ich diese Unternehmung fortgesetzt. Wieviel davon ich in diesen Blog aufnehme ist noch unklar. Aber einen Teil dieser Reise, den 4-wöchigen Aufenthalt im Boddhi Zendo, habe ich gerade hier eingestellt. Nehmt diese Zeilen als eine Art Vorwort dazu.

1998 war es deutlich schwieriger, an Informationen über das Boddhi Zendo zu kommen als heute  (hier z.B. ein neueres Video). Das Internet war kaum 10 Jahre alt, Browser gab es weniger als fünf Jahre, ich selbst hatte zwar einen Computer, aber noch keinen Internetzugang. Vor allem aber, es gab nicht die Fülle an Inhalten, wie wir sie heute gewöhnt sind. Kurz, als ich nach Indien aufbrach wußte ich nur, dass es das Boddhi Zendo gab. Wenn es möglich war, wollte ich es finden und eine begrenzte Zeit dort verbringen. Fixiert darauf war ich nicht, es war eine von mehreren Ideen, was ich während meinem sechsmonatigen Aufenthalt in Indien tun wollte.

Über Zen hatte ich bis dahin nur gelesen. Meine Erfahrungen beschränkten sich auf sporadische Versuche alleine zu üben, zu meditieren. Aber wie vielen anderen ist es mir nie gelungen, eine Regelmäßigkeit zu entwickeln, die für jedes Üben entscheidend ist. Dennoch waren diese Versuche wichtig, denn ich wusste zumindest, wie man sitzt. Ich wußte die Meditationshaltung einzunehmen und meinen Atem zu zählen. Ich kannte meinen unruhigen Geist und meine schmerzenden Fußgelenke. Kurz, auf sehr unbestimmte Weise wußte ich, worauf ich mich einlassen würde, wenn ich das Zendo fände.

Schließlich traf ich in Bodhgaya, dem touristisch gut erschlossenen Ort, an dem Buddha Erleuchtung fand, einen anderen Reisenden, der das Zendo besucht hatte und mir die Adresse gab. Die lag so ziemlich am anderen Ende von Indien, was aber nur nur bedeutete, dass es etwas länger dauerte, bis meine Reiseroute mich dort hinführte.

Vor Ort war musste ich dann noch einige Tage warten, bis ein Zimmer frei wurde, da ich nicht angemeldet.  Aber wie überall in Indien bewiesen auch hier die Menschen vor Ort Flexibilität. Eine (ent)spannende Zeit begann.

Die Tagebuchaufzeichnungen selbst werde ich unkommentiert und im Wesentlichen unverändert lassen. Dennoch gibt es Dinge, die ich aus persönlichen Gründen nicht teilen möchte, zum Beispiel Details meiner damaligen familiären Situation oder sexuelle Phantasien. Das ist unmittelbar einzusehen und bedarf keiner Erklärung. Von anderen Dingen, die ich gerne für mich behalten möchte, ist mir allerdings selbst nicht klar, warum das so ist. Es geht um meine Koan-Praxis, das zu lösendene Koan und Details zum Dokusan. Dabei könnte ich mich leicht auf traditionelle Gründe herausreden. Es gibt Linien und Meister, die strikt davon abraten. Wie die Haltung von Ama Samy, dem Gründer und Meister des Boddhi Zendo, dazu ist, weiß ich nicht; ich erinnere keine expliziten Aussagen von ihm dazu. Im Zendo-Alltag war allerdings – auch bei den älteren Schülern – keine spezielle, auf das Thema bezogene Zurückhaltung zu spüren.

Die entsprechenden Textstellen im Tagebuch unkommentiert herauszunehmen wäre nicht schwer und würde den Textfluß nicht stören. Aber da regt sich mein Chronisten-Gewissen, den Koan-Praxis und Dokusan gehören ja unzweifelhaft zum Zendo-Alltag, ganz so, wie Gemeinschaftsarbeit (Samu) oder Meditation. Also werde ich die Auslassungen kennzeichnen und Euch stattdessen hier mit Zitaten aus Wikipedia vertrösten.

Dokusan
Mit Dokusan (jap. 独参, „Einzelbesuch“) bezeichnet man die Begegnung unter vier Augen mit dem Meister im Rinzai-Zen […].

Dokusan ist eine der tragenden Säulen der Zen-Übung. […] Häufig dient das Dokusan der Bearbeitung von Kōans und der Überprüfung des Übungsfortschritts des Praktizierenden und seiner/ihrer Annäherung an die „Wesensschau“ (Kenshō).

Dokusan unterliegt einem festen Ablauf, der den Gang zum Raum des Meisters, das Eintreten in den Raum, das Grüßen des Meisters, den Ablauf des Gesprächs und das Verlassen des Raumes umfasst. […] Der Meister kann zu jedem Zeitpunkt die Begegnung durch das Läuten einer kleinen Handglocke beenden. Dann muss der Schüler sich sofort – unter Einhaltung aller üblichen Rituale – entfernen und weiter an seiner Aufgabe arbeiten.[…]

https://de.wikipedia.org/wiki/Dokusan

Konkret sah das so aus, dass wir Schüler dann schweigend in einer Reihe vor dem Raum standen, der für dieses Ritual vorgesehen war, und darauf warteten, das das Glöckchen läutete. Mich hat diese Situation immer ziemlich angespannt. Die Themen: Wie setze ich mich zu einer Autorität in Beziehung? Wohin mit den Gefühlen der Unterlegenheit? Was zum Buddha mache ich hier eigentlich?

Zumindest die letzte Frage ist oberflächlich leicht zu beantworten; ich versuche, ein Koan zu beantworten.

Ein Kōan […] ist im […]chinesischen Chan- bzw. japanischen Zen-Buddhismus eine kurze Anekdote oder Sentenz, die eine beispielhafte Handlung oder Aussage eines Zen-Meisters, ganz selten auch eines Zen-Schülers, darstellt.

Verlauf und Pointen dieser speziellen Anekdoten wirken auf den Laien meist vollkommen paradox, unverständlich oder sinnlos.[…] Trotz ihrer vordergründigen Unvernünftigkeit und Sinnlosigkeit verfügen sie über einen historischen Kern, der auch intellektuell nachvollziehbar ist und Aspekte der Chan-Philosophie ausdrückt. Im Chan und Zen werden Kōans als Meditationsobjekte benutzt.

Das bekannteste Kōan, das inzwischen auch im Westen Allgemeingut geworden ist, ist die Frage nach dem Geräusch einer einzelnen klatschenden Hand […].

https://de.wikipedia.org/wiki/K%C5%8Dan

Die Antwort lässt sich nachlesen. Nicht nur für dieses, sondern für jedes Koan. Dennoch ist eine authentische Antwort gefordert. Das Dokusan als Situation ist in sich eine paradoxe Aufgabe. Eine Aufgabe, der jeder auf sehr persönliche Weise begegnet. Womit ich mir am Ende dieser Zeilen doch noch klar geworden bin, warum ich diesen Teil der Tagebuchaufzeichnungen nicht mit Euch teilen möchte. Er ist nicht nur persönlich, sondern zu persönlich.

Warum? Abschließend nochmal Wikipedia:

Ähnlich einer therapeutischen Sitzung ist die Beziehung zwischen Schüler und Meister oft stark aufgeladen und es kommt zu großen geistigen Kämpfen. Ist der Meister „sein Salz wert“, dann wird der Schüler allerdings auch nach größten Frustrationen immer wieder durch sehr dichte Momente von Erfahrung und im Durchbrechen der Schranken des Koans zu tiefen Einsichten gebracht, woraus im Laufe der Zeit eine tiefempfundene Verehrung für den Lehrer entsteht. Die langfristige Aufgabe des Meisters (Roshi) ist, wie die eines jeden Lehrers oder auch Therapeuten die, dass der Schüler sich vom Meister völlig emanzipiert und schließlich abnabelt (was der Verehrung keinen Abbruch tut). Im Zen spricht man sogar davon, dass ein Schüler, der „nur“ genauso gut ist wie sein Meister, diesem nicht ebenbürtig ist. Darum soll der Schüler die „Schultern des Meisters besteigen“ – darin spiegelt sich die geistige Freiheit des Zen.

Nun, von alldem bin ich weit entfernt. Und dennoch heute etwas näher, als ich es damals war. Deswegen möchte ich Euch abschließend daran erinnern, dass Ihr etwas lesen werdet, das ich heute so an einigen Stellen nicht mehr schreiben oder denken würde.

Hier geht es zu Tagebuchaufzeichnungen.