Reisetagebuch Indien, Boddhi Zendo, 7.1. bis 28.1.2001

Reisetagebuch Indien, Boddhi Zendo, Teil 1, 25.1. bis 25.2.1999
Reisetagebuch Indien, Boddhi Zendo, Teil 2, 12.1. bis 7.2.2000

Vorwort zum 3. Teil (veröffentlicht am 31.3.2023), Kontext zählt.


7.1.2001, Sonntag
Wieder im Zendo. Ankunft gestern Morgen mit den Nachtbus aus Madras, nachdem wir den Donnerstag und Freitag noch einmal in Mahabalipuram verbracht hatten. Hier hat sich wenig und doch zugleich viel verändert. Vielleicht am besten beschrieben als atmosphärische Veränderung, die sich an einigen wenigen Äußerlichkeiten festmachen lässt.

Zunächst ist das Haus fertig, das letztes Jahr nur als Rohbau zu sehen war. Es steht links neben der Zufahrt zum Zendo und Ama Sami wohnt darin. Unmittelbar davor gibt es nun ein Tor und an dieses Tor schließt ein Zaun an, der oben mit Stacheldraht bewehrt ist. Ich mag das nicht, mit Stacheldraht geschützt und zugleich eingeschlossen zu sein.

Als nächstes gibt es einige „hilfreiche“ Schilder,  die den Umgang mit den Waschbecken oder der Bücherei “lehren”. Alles Dinge, die in den Jahren davor noch “mündlich überliefert” wurden, was zumindest den Eindruck eines freien Umgangs miteinander erzeugte. In der Bibliothek ist es nun nicht mehr möglich, sich selbst in der Ausleiheliste ein- oder auszutragen.

Kurz, einige Äußerlichkeiten lassen den Eindruck einer relativ rigiden Gesamtanlage der Dinge hier entstehen. Gestützt wird dieser Eindruck noch durch die Altersstruktur. Die meisten hier dürften zum Teil wesentlich über 50 Jahre alt sein.

Sehr viel schöner als in den Vorjahren ist der Innenhof gestaltet.

8.1.2001, Mittwoch
Beim Samu hat mich das Toilettenreinigen erwischt und während ich zuerst dachte, es sei eine Strafe dafür, dass ich den Toilettendienst zu Hause so sehr vernachlässigt habe, könnte es auch Belohnung sein für ich-weiss-nicht-was. Denn: die Arbeit ist erstaunlich schnell erledigt und danach habe ich Zeit, mich einer anderen Arbeit meiner Wahl anzuschließen.

<O>

Eine Beobachtung allgemeiner Art: Das Essen ist schlechter geworden, oder aber ich kann es nicht mehr so genießen. Insgesamt ist es zu wenig gewürzt, was einerseits daran liegen könnte, dass die Köchinnen versuchen, auf den europäischen Geschmack einzugehen. Andererseits aber auch in den Speisevorschriften der Yogis, die scharfes Essen als der Meditation abträglich ansehen, begründet sein könnte.

9.1.2001, Dienstag

Um beim Essen zu bleiben: gestern Abend eine kurze Szene mit D. beim Abendessen. […]

[…]

[…] Nach einiger Zeit schlüpft sie neben mir ins Doppelbett, da ich in meinem Zimmer habe und wir schlafen Arm in Arm ein. Mit keiner Lösung und der Vermutung, morgen so aufzustehen, wie wir heute schlafen gehen.

<O>

Heute morgen ein frühes aus dem Bett schlüpfen, noch vor dem Morgengeklingel. Meditation, wortloses Aneinander-vorbeigehen, meine Versuche, über kleine Berührungen mit Ihr Kontakt aufzunehmen, werden eher aus Höflichkeit, denn aus Neigung beantwortet.

10.01.2001 Mittwoch
11.01.2001 Donnerstag

12.01.2001 Freitag
Alles, was einen direkt berührt, berührt die anderen indirekt.

13.01.2001 Samstag

[Ich lese] Laurence G. Boldt: Zen and the art of making a living [und notiere seitenweise Fragen daraus, die ich mir  irgendwann einmal beantworten möchte. Was nie geschehen wird.]

14.01.2001 Sonntag

15.01.2001 Montag
Gefühle großer Verlassenheit, gestern ein freier Tag, zugleich Pongal – Erntedankfest – hier. Auf einem unserer Wege ins Dorf blieben D. und ich auf einem Felsen sitzen, Aussicht auf herrlichste Berglandschaft und Mittagsmond, und sprachen. […]

[…]

Nur allzu leicht räume ich in Gesprächen wie dem gestrigen ein, dass unsere Beziehung enden könnte, enden wird. Dass da ein junger zeugungsfähiger Mann kommen wird, mit dem sie das Kind haben könnte, von dem sie träumt (oder dass sie vorschiebt, um einen “objektiven” Grund für unser nicht-zusammen-sein-können zu haben). Ich kann diese Zeit leicht anschauen und darüber reden, dass es vielleicht der Sinn unserer Beziehung war, ihre Vater-Tochter-Dinger aufzulösen oder doch wenigstens ertragbar zu machen. Das tut beim drüber reden nicht mal weh, obwohl mir schon jetzt davor graut, die Trennung real zu erleben.

In meinen Fantasien bleibe ich mit ihr freundschaftlich verbunden. Ich bin ihrem Kind ein Onkel und manchmal besucht sie mich auf der „Wiese“.

Sonne.

Neben all dem haben wir ein “zweites Leben“, indem wir Pläne für unsere gemeinsame Zukunft machen oder doch zumindest ernsthafte gemeinsame Alternativen zu unseren jeweiligen gegenwärtigen Leben erwägen. Diese Alternativen sind nicht weniger gewollt, in nichts weniger mögliche Zukunft als meine Trennungsphantasien, auch wenn das zunächst unvereinbar klingt. Vielleicht geht es auch deswegen zusammen, weil ich diese gemeinsame Zukunft auch alleine leben könnte.

[…]

<O>

Heute morgen dann diese Verlassenheit, ausgelöst dadurch, dass sie sich, wie an den anderen Tagen zuvor auch, doch ohne dieses Ergebnis, an einen anderen Tisch setzt. Es ist einzig und allein meine Verlassenheit, bis zum Morgen haben wir gemeinsam in unserem Bett geschlafen und nach dem Frühstück versuchte sie, durch kleine Gesten Kontakt aufzunehmen.

Überwiegen die guten oder die schlechten Tage?

Beim Pinkeln schaue ich an mir herunter und mein Fuß ist mein Fuß, als ich Kind war. Wir gehen hier in der Zeit vor und zurück, ganz nach Belieben. Nur nicht unserem Belieben!

16.01 01. Dienstag
Der erste volle Tag des Sesshin.

17.01.2001 Mittwoch
18.1. 2001 Donnerstag

19.01 2001 Freitag
[Mein zweites Koan]

Dies also mein zweites Koan. Nachdem ich letztes Jahr ganz und dieses Jahr bis heute ausgesetzt habe, bin ich heute zum Dokusan, “um mich wieder ins Spiel zu bringen”.

Im Teisho gestern wurde mein erstes Koan erwähnt. Ich erinnere mich wieder daran, [… u]nd während im letzten Jahr das nur-sitzen vollkommen okay war, schien es mir dieses Jahr zunehmend ineffektiver, meint: bereichernd.

Wichtiger aber scheint mir der Gedanke und die Formulierung “wieder ins Spiel zu wollen”. Ich habe einen kurzen Moment gezögert ihn auszusprechen und er scheint mir auf so vieles mehr anzuspielen, als nur auf das Koan. Zuallererst wohl mein Berufsleben, ich habe hier eines der vielen How-to-lead-a-live-Bücher gefunden, aus Zen-Perspektive selbstverständlich.

Und darin geblättert, ja, auch anstecken lassen von der Möglichkeit (!), ein anderes, ausgefüllteres Leben führen zu können.

Das Schweigen während des Sesshins ist zu zweit noch einmal anders als alleine. Sich nicht mit Worten aufeinander beziehen zu können, ist doppelt schwer, wenn es sonst nichts gibt. Mir kommt es vor, als risse unsere Beziehung gänzlich ab, wenn wir schweigen. Meine Versuche, wenigstens über Blickkontakt in Beziehung zu bleiben, werden nicht erwidert, oder falls doch, stürzen sie mich in Unsicherheit? Ist dieser Blick ein liebender?

Vielleicht deswegen haben wir uns gestern eine Auszeit vom Schweigen genommen und, wenn wir alleine waren, miteinander gesprochen und geschwätzt. Wie wichtig gerade auch das Geschwätz ist, ist mir erstmals klar geworden. Es versichert uns der Beziehung, wo wir ihrer unsicher sind.

Was aber, wenn da keine ist? Manchmal fühlt es sich für mich so an. Ich spüre keine Verbundenheit, nichts Gemeinsames, suche das Dauerhafte unseres Paar-seins. Worin bildet es sich ab? Darin, dass wir manchmal etwas näher beieinander sitzen, ja, gar ein Zimmer. gemeinsam bewohnen? Und manchmal neben-, manchmal miteinander schlafen?

Gut, das ist ein schöner Anfang! Aber langt das aus? Nein, ich wünsche mir mehr. Wenn ich auch nicht genau benennen kann, wie dieses Mehr heißt. Ein Teil dieses Mehr heißt sicher. “Annahme”. Ich will angenommen sein, so wie ich bin. Ich wünsche mir das Gefühl, dass es ausreicht, zu sein, was ich bin, um anerkannt zu sein.

20.01.2001 Samstag

Dokusan: “[Mein zweites Koan]”

Auf abstrakter Ebene ist es recht einfach, das Koan zu sein. […]

Sobald dann aber ich den Versuch unternehme, in die Situation zu gehen, sie mir bildhaft vorzustellen, gibt es wieder “zwei” […].  Alle Versuche uns zwei näher zueinander zu bringen … .

Soweit und etwas gerafft mein “first approach“ an den Koan […]. Mein erster Gedanke, eine kleine Pantomime  aufzuführen, scheiterte an der Idee zur Durchführung. Wie stellt man [die Antwort auf das Koan] pantomimisch dar? Und schon war der Moment herum, den ich gehabt hätte. “Next time!”

<O>

 

Kontinuität
Verlässlichkeit
Zuwendung
Kontakt
Annahme

Wie eine Kerze im Zug.

<O>

Was „wir“ heute abliefern, ist ohne Worte im wahrsten Sinne des nicht-gesprochenen Wortes.

[…]

<O>

[…]

21.01 01. Sonntag
Ende des Sesshin nach dem Frühstück. Gewaschen und umgezogen sitze ich in der Sonne vor meinem Zimmer.

<O>

Es scheint, als ob die gestrige Dunkelheit zum allergrößten Teil, sagen wir so um die 80 Prozent, in meinem Kopf war. Überbewertungen und -reaktionen. Vielleicht auch ein wenig gegenseitige Hochschaukelei. Nichts auf jeden Fall, was die innere Raserei rechtfertigen könnte, die ich veranstaltet habe. Nichts vor allem, was nicht mit ein bisschen Nachgiebigkeit aus der Welt zu schaffen gewesen wäre. Aber ich musste ja den Endkampf um den Zustand unserer Beziehung daraus machen.

Was ist daraus zu lernen? Zunächst einmal, da gibt es das Gefühl, vollkommen unverbunden zu sein. Es gibt das Fehlen jeder inneren Sicherheit, dass “sie mir gut ist”. Es gibt in mir die Bereitschaft, mich zum eigenen Schaden entgegen meiner gegenteiligen Wünsche zu distanzieren. Es gibt die Bereitschaft, Situationen nach folgendem Muster zu strukturieren: Sie behandelt mich schlecht und ich werde das nicht akzeptieren.

Ich neige zur Unnachgiebigkeit.

Festzuhalten ist auch, dass ich unglaublich viel Energie damit verschwende, wenn ich so “schweigend vor mich hin wüte”. Da ist kaum etwas für wirkliche Meditation übrig geblieben.

Nachdenken möchte ich darüber, was es bedeutet, dass meine inneren Dialoge so verletzend sind. Vieles würde ich in einem realen Gespräch so nicht sagen, weil ich fürchten würde, schwere oder nicht heilende Wunden zu schlagen.

Als Aufgabe habe ich nun „zurückzukehren“. So viel Abkehr, so viel Entfernung war in meinen Gedanken. Und diese Gedanken haben für mich Realitätswert gehabt, man(n) wechselt nicht so einfach seine Realität.

Ich muss mich also nicht, oder deutlich weniger, schützen. Muss nicht heute die Spielregeln unserer zukünftigen Beziehung auskämpfen. Muss mich nicht darum sorgen, ob ich derjenige bin, der immer kommt. Muss mich nicht ungeliebt fühlen. Vor allem muss ich mich nicht entfernen um all diese miesen Gefühle ein für allemal auszuschließen

<O>

Einige schöne Rückmeldungen erhalten. Es war angenehm, mit mir Gemüse zu schneiden (Wir waren auch nach meiner Meinung ein gutes Team). Und ich hätte erstaunlich ruhig gesessen. Ein Lob, das mich dann doch erstaunt, weil es sich nicht mit meiner Innenwahrnehmung deckt.

22.01.2001, Montag
23.01.2001, Dienstag,  [Mein drittes Koan]
24.01.2001, Mittwoch

25.01.2001 Donnerstag
[Donnerstags besteht die Möglichkeit ins nahe gelegen Städtchen, Kodaikanal, zu fahren.]

<O>

„Es gibt keine Lösung, weil es kein Problem gibt.“
Marcel Duchamp

<O>

Wie es mit dem “[Koan]kram” weiterging?

Ich ließ drei Tage herumgehen bis ich schließlich wieder zum Dokusan ging, nicht um das Koan zu lösen, sondern um im Gespräch zu bleiben. Ich sagte, ich wollte nur sicherstellen, dass er keine kleine Pantomime von mir wünsche, erstens, und zweitens seien mir die metaphorischen Bedeutungen [des Koans] durch den Kopf gegangen – Wünsche, Begierden – die zu zeigen ich noch viel weniger imstande sei.

Gewiss, manchmal seien kleine Darstellungen gefragt und manchmal gehe es auch um die Metaphern. [… U]nd setzt sich hin und schließt die Augen und ist [das Koan]. Vermutlich zumindest, denn so genau war das von außen nicht zu erkennen, was innen geschah.

Kurze Pause, dann “I will give you and new koan: [Mein drittes Koan]” Ich wiederholte die Frage und war entlassen.

So also bin ich nun bei meinem dritten Koan. Ohne die ersten zwei gelöst zu haben. Oder habe ich das, ohne es zu wissen? Ich bin mit neuem Interesse an der Literatur nun auf der Suche nach Hinweisen darauf, wie mit Koans umzugehen ist. Wichtig ist wohl, zum Koan zu werden, wie auch immer das erreicht wird. In einigen Schulen gehört es wohl dazu, dass Koan vor dem Versuch, es zu lösen, erneut aufzusagen, Wort für Wort auswendig. In anderen (oder den gleichen?) wird es während der Meditation in Gedanken Wort für Wort rezitiert. Ich muss mehr darüber herausfinden.

<O>

Eigentlich möchte ich über D. und mich schreiben, aber was? Unseren Groll aus dem Sesshin haben wir ab-, vielleicht auch nur beiseitegelegt. Ein Gespräch während des Aufstiegs auf den Peak nahm den für uns so typischen Verlauf einer ersten und langsamen Annäherung, der dann der Gesprächsabbruch seitens D. folgt, den sie oft so setzt, dass einfach durch räumlichen Abstand oder Menschen drumherum eine Fortsetzung wirklich unmöglich ist. Ich bleibe dann „angebrochen“ zurück und kann mich mit mir selbst unterhalten. Einziger Vorteil, ich muss nicht auf die Formulierung achten, denn da ist niemand mehr, den ich verletzen könnte.

Im Ernst, diesen Verlauf haben seitdem noch zwei weitere Gespräche genommen und ich vermute auch einige zuvor, ohne dass ich ihn zu diesem Zeitpunkt schon hätte benennen können. Aber was geschieht da? Ich glaube, sie wird einfach ungeduldig, weil sie von mir keinen Beitrag erhält, wie sie ihn erwartet. Was genau ihre Erwartung ist, weiss ich nicht.

Ganz allgemein formuliert sollte ich wohl mehr von mir erzählen. Leider erkennt sie nicht immer, wenn ich das tue. Und auf dem Weg zum Peak habe ich mich an einer Stelle dreimal wiederholen müssen, nur um festzustellen, dass sie meine Innenweltdarstellung unbedingt als Außenweltdarstellung diskutieren und bewerten wollte. Ein weiterer Versuch scheiterte am steilen Aufstieg […].

Dass ich nicht ihr Therapeut sei, muss ich wohl mal unbedacht gesagt haben, und auch dies trägt sie mir nach. Ebenso meine Anspielung auf den Beginn einer Therapiesitzung, als sie mich nach ich-weiss-nicht-mehr-was fragte. Dabei hätte ich mich durchaus darauf eingelassen. Mir ist ihr in-mich-dringen nicht so unangenehm, wie sie denkt.

Gewiss auch deswegen nicht, weil ich in der Vergangenheit bemerkt habe, dass sie solche engen Momente als Vorspiel benutzt. Geteilter Seelenschmerz als Stimulanz. Da scheinen beide von beidem etwas zu haben. Warum also nicht? Hat vor allem den Vorteil, dass es funktioniert. Ganz anders als ihre erfolglosen Versuche, mich hervorzulocken, wenn ich ohnehin schon sauer und umso mehr verschlossen bin. Bis ich dann halbwegs gesprächsfähig bin, ist ihre Geduld schon erschöpft und siehe-oben.

<O>

Enttäuschung also auf beiden Seiten. Sie hätte sich wohl mehr Unterstützung, Zuspruch oder Nachfrage bei Ihren persönlichen Problemen gewünscht. Ein Anspruch, dem ich nur zeitweise und mit Mühe nachkomme

Aber auch meine Hoffnung auf ein etwas freudvolleres und unbeschwerteres Leben hat sich nicht erfüllt. Stattdessen kämpfe ich nun an in fast allen Lebensbereichen mit dem Gefühl des Unvermögens.

26.01 Freitag
27.01 Samstag

28.01 Sonntag
Unser letzter Tag morgen fahren wir ab. Zunächst nach Madurai, wo wir noch zwei Tage verbringen werden. Danach nach Madras oder Mahabalipuram, wo wir nur noch auf den frühen Abflug warten werden.

Heute morgen habe ich noch einige Blumensamen aus dem Garten entnommen. Und auch einen Ableger der Minze. Ich möchte auch versuchen, einige Ableger des Koreagrases großzuziehen, es wächst so hübsch puschelig. Das mag ein Risiko sein, weil es angeblich nicht winterhart ist.

Nun, ich werde sehen.

 

Reisetagebuch Indien, Boddhi Zendo, 12.1. bis 7.2.2000

Das 2. Jahr im Boddhi Zendo, die Beschreibung des ersten Jahres gibt es hier.

Perumalmalai, Palani Junction

13.1.2000, Donnerstag
Nach einer Nacht im Bus frühmorgens am Mittwoch in Perumalmalai angekommen, immer noch vom Fieber geschwächt. Zunächst war es schwierig, den Weg zu finden, aber einer der Teeverkäufer hat mich “eingefädelt” und danach ging’s nur noch geradeaus. Auf dem Weg den Berg hinauf habe ich den Sonnenaufgang sehen können, leider war ich so angestrengt vom Rucksack tragen, dass ich es nicht recht genießen konnte.

Umso schöner dann die Ankunft im Zendo. Ich kam kurz nach Beginn der ersten Meditation an (6:15 Uhr) und weil ich nicht stören wollte, ging ich ohne zu läuten hinein, nahm mir einen Stuhl im Innenhof und wartete.

Diese erste Stunde ist auch die Stunde des Dokusan und so konnte ich es einmal von außen erleben. Erst geht der Roshi  zu seinem Dokusan-Raum, kurz darauf folgen die ersten zwei seiner Schüler und warten, bis die Lehrgespräche beginnen. Mit dem Läuten der Glocke geht der erste hinein, wenn die Glocke abermals läutet ist sein Dokusan beendet und der nächste Schüler geht hinein. Der erste geht zurück in die Meditationshalle, sagt einem der noch wartenden Schüler Bescheid, setzt sich und meditiert weiter. Besonders schön war, dass gleich die ersten Schülerinnen Bekannte vom ersten Jahr waren, Angelika, Regina und Rosmarie. Alle drei über 60, das will ich erwähnen bei dem gehäuften Auftreten von Frauennamen. Es war wie ein nach Hause kommen.

Meinen ersten Handschlag erhielt ich dann vom Roshi selbst. In jedem Film wäre er auf mich zugekommen und hätte etwas in der Art von “Da bist du ja endlich nach so vielen Inkarnationen” gesagt. Stattdessen sagte er: “Uhh, I forgot your name.” Anschließend plauderten wir etwas über das Wetter, wie das traditionellerweise schon seit Jahrhunderten zwischen Schüler und Meister geschieht.

Tatsächlich ist das Wetter durchaus der Erwähnung wert. Seit fünf Tagen war Regen gefallen und mit mir kam zum ersten Mal wieder die Sonne heraus. Alle sind froh darüber. Anschließend hatte ich frei, den ganzen ersten Tag, und habe ihn zum Ausschlafen genutzt. Ich habe eine handfeste Erkältung, zum Schnupfen ist es ein trockener Husten hinzugekommen.

Beim Liegen heize ich auf, aber wenn ich mich bewege, fühle ich mich wohl. Insgesamt ist das alles lästig, aber nicht mehr bedrohlich. Zwei meiner Bekannten aus dem Vorjahr haben mir angedroht, mich zu pflegen, falls ich abbaue und für schlimmere  Komplikationen hat das Schicksal mir einen deutschen Arzt hergeschickt, der ebenfalls “sitzt”.

Kurz, ich bin gut angekommen und eigentlich kann es nur besser werden.

<O>

Es ist 3 Uhr morgens und ich bin wach, kein Wunder, wie schon beschrieben habe ich den ganzen gestrigen Tag geschlafen, dann ab 22 Uhr wieder und irgendwann muss es ja mal gut sein. Auch heute ist noch einmal frei und wenn es möglich ist, fahre ich nach Kodai um eine E-Mail abzusetzen, Helen Nachricht von meiner glücklichen Ankunft geben.

<O>

Am anderen Ende des Donnerstags war ich nicht in Kodai, fühlte mich nicht danach. Habe es vorgezogen, auch diesen Tag im Bett zu verbringen. Bin nur zu den Mahlzeiten aufgestanden, wenig Kontakt zu den anderen. Heute Abend die erste Meditation sehr unruhig, viele Gedanken, ich bin im Kopf dabei Briefe zu schreiben und nette Formulierungen zu erfinden, als sei ich nicht für mich hier, sondern dafür, es anderen zu beschreiben.

Links von mir sitzt Regine, womit ich sehr zufrieden bin. Erstens mag ich sie und zweitens sitzt sie sehr ruhig. Da kann ich mich in schwierigen Zeiten mitnehmen lassen. Rechts von mir ist noch frei und Platz für Überraschungen. Die Abläufe sind mir noch fremd. Ich muss mich erst daran erinnern, selbst die Handhaltung beim Gehen finde ich nicht mehr.

14.1.2000, Freitag
Auch bei der ersten Morgenmeditation wieder Briefe im Kopf. Ich werde sie wohl demnächst mal aufschreiben müssen, um sie loszuwerden.

Dokusan habe ich an mir vorübergehen lassen. Zur Ausrede habe ich, dass sie es etwas anders handhaben als im letzten Jahr. Keine Zeichen mehr mit dem Buch und so. Das gilt allerdings nur noch zwei Tage, während des Seshins wird es wieder sein wie gewohnt. Und “wie gewohnt” habe ich ja gerne.

<O>

Samu [Arbeit für die Gemeinschaft] war den ersten Tag im Garten, ab morgen werde ich die Gänge vor den Türen kehren.

15.01.2000 Samstag

16.01.2000 Sonntag
Es fällt mir schwer, nicht zu depressiv zu werden. Die Erkältung (und vielleicht die Depression) lastet auf mir. Glücklicherweise scheint die Sonne und ich sitze vor dem Outdoor-Oak mit Blick in die Berge.

[Es beginnt ein Brief, den ich anscheinend nicht abschließe und von dem ich nicht weiß, ob ich ihn jemals abgesandt habe, überschrieben mit:]

Letter to all – Einer für alle.

Bin glücklich und fiebrig (Erkältung) in Indien angekommen. Hier hat sich wenig verändert seit dem letzten Mal, für die Jahreszeit ist es zu heiß und die Männer tragen seltsame Röckchen. Das zu erkennen ging schnell, auch hier im Zendo gibt es große kulturelle Unterschiede.

Vielleicht am Erstaunlichsten: hier wird mit großer Selbstverständlichkeit gespült. […]. Sogar der Roshi spült seine Teller selbst, obwohl er das ja leicht von seiner europäischen Anhängerschaft erledigen lassen könnte. Ich jedenfalls würde ihm gerne die Teller waschen, wenn er mich dafür ein kleines bisschen erleuchten würde.

Aber nein, spülen und erleuchten muss sich jeder selbst. Überhaupt, das mit der Erleuchtung ist harte Arbeit und nachdem ich hier Menschen wiedergetroffen habe, die vor einem Jahr auch hier waren, vermute ich, dass es mit vier Wochen Intensivbemühung nicht getan ist. Schade eigentlich!

Ein besonderes Hindernis scheint neben den schmerzenden Beinen meine Neigung zu sein, während der Meditation an launigen Formulierungen für meine E-Mails zu denken. Dabei sollte ich eigentlich gar nicht denken (vereinfacht ausgedrückt). Hat schon meine Mutter gesagt: “Bub, du denkst zu viel.” Hat sie möglicherweise anders gemeint als der Roshi.

Das Haupthindernis aber, das EGO, muss man sich vorstellen wie die Matrix oder das Gedächtnisimplantat in Total Recall. Nur eine Illusion, aber gut gemacht. Spätestens wenn wir es für eine eigene Leistung halten, dass wir nicht mehr in die Windeln scheißen, ist die Ego-Implantation gelungen und zwingt uns im weiteren Verlauf zu beruflichem Engagement, Drogenkonsum, Diät oder Psychotherapie, die Vorlieben sind da verschieden.

Aber ich fürchte ich schweife ab. [Ende des Briefentwurfs]

Montag, der 17.01.2000

Dienstag, der 18.01.2000, 3 Uhr morgens.
Gestern Abend der Beginn des Sesshins. Noch am Nachmittag sind einige neue, und wie es scheint unerfahrene Menschen gekommen. Sie haben harte Arbeit vor sich.

So auch ich. Ich doktere an den Sachen rum, an denen man halt am Anfang rummacht. Wie sitze ich? Welche Haltung? Wie nicht denken? Zählen oder nicht? Kurz, ich bin hier am Anfang.

Dadurch, dass ich an den Tagen geschlafen habe und mein Tag-Nacht-Rhythmus verschoben ist, wache ich in den Nächten auf und bleibe wach. Mit den Gedanken bin ich oft zu Hause bei Helen. Am Platz. Die Kinder nehmen weniger Gedanken in Anspruch. Ich komme hier nicht an.

Sicher ist meine Erkältung, die sich hartnäckig hält, Ursache und Wirkung zugleich. Auf undeutliche Weise hat das mit Schuldgefühlen zu tun, weil ich schon wieder weg bin.

Und es hat zu tun mit meiner Intuition, dass ich nicht reisen sollte dieses Jahr. Dieses Gefühl war ja sehr stark und ich habe dann eine Kopfentscheidung für diese Reise gemacht. Weil ich mich von undeutlichen Ängsten, die sich auf Krankheiten oder Unfälle beziehen, nicht bestimmen lassen wollte. Zudem hatte sich Helen gerade von mir getrennt und vor mir lag ein langer depressiver Winter.

Vielleicht sagt die Intuition aber nur “Alles kommt anders, als du denkst, und du wirst diese Reise nicht genießen können“ oder “Was einmal gut war, muss in der Wiederholung nicht gut sein“.

Ohne die neuen Jungen wären wir hier ein ziemliches Altersheim, mehrheitlich Menschen über 50, oft viel älter! Da schleicht sich die Frage ein, was ich hier eigentlich will. Denn fortsetzen werde ich die Praxis zu Hause nicht, so viel scheint mir festzustehen.

“Die Alten” sind anscheinend aber bereit, viel Zeit aufzuwenden, haben sie vielleicht auch eher (Quatsch, ich habe alle Zeit der Welt). Letztlich, vielleicht sind sie auch näher dran an Krankheit, Alter und Tod.

Mein Start hier in der ersten Woche war von vier annähernd freien Tagen begleitet, was wegen der Erkältung gut war, mir aber andererseits zu viel Luft für depressive Gedanken gelassen hat. Ich will nicht depressiv sein. Vielleicht heisst so das Problem. Ich will nicht durchhängen, aber ich tue es und diese Woche wurde das auch durch meditatives Nicht-Tun nur schwach verdeckt.

“Wenn ich schon nichts tue, dann will ich wenigstens das richtig tun, nämlich meditativ.“ So war mein Ansatz vom letzten Jahr. Wie der Ansatz dieses Jahr heißt, weiß ich nicht. Da war ja zunächst nur dieses Darübernachdenken, ob es noch mal Sinn machen würde [, ein weiteres Mal ins Zendo zu kommen].

Was sich nach außen als „Vielleicht mache ich das noch mal”  geäußert hat. Auch Helen gegenüber musste ich die Möglichkeiten offen halten, weil “nicht gehen“ dann einfacher wäre als im umgekehrten Fall (Ich will das nicht noch mal) dann doch zu gehen.

Interessanterweise hat dann diese offen gehaltene Tür Eberhard erlaubt, den Fuß dazwischen zu stellen: “Magst du das nicht mit Bangladesch verbinden, denn da möchte ich gerne noch mal hin?“ Eigentlich hat sich da nur eine offen gehaltene Möglichkeit in meinem Leben verselbstständigt, gewissermaßen einen unerwarteten Zug entwickelt.

Diese Zugkraft zu entwickeln war aber nur möglich, weil ich „allein“ war, verlassen und ohne Aussicht auf Besserung. Ich wollte, ich könnte an dieser Stelle klarere Gedanken entwickelt. Es gibt einen Anteil Helens, der mitverursachend für diese Reise ist (sie würde das vermutlich empört abstreiten).

Gesetzt der Fall, die damalige Trennung von mir wäre – und sei es nur zum Teil – bedingt gewesen durch die Angst vor dieser Reise. Dann hätten wir es mit einer klassischen neurotischen Grundstruktur zu tun, die hervorruft, was sie abwenden will. Ich traue uns so etwas zu.

Soweit zum Ansatz, warum ich eigentlich hier im Zendo bin, möglicherweise aus Versehen, neurotischerseits.

Dass ich meiner Winterdepression auch in Indien nicht entgehen kann, wäre vorhersehbar gewesen.  Dass ich jetzt, da ich bald aufstehen muss, langsam beginne müde zu werden, auch. Nennenswerte Gedanken. Keine mehr.

<O>

Erste Meditationseinheit: heftige sexuelle Fantasien. Geht die Zeit sehr angenehm bei rum! Bleibt aber auch die Erkenntnis, dass Helen und ich unsere Möglichkeiten noch lange nicht ausgereizt haben.

Die Erkältung hält immer noch an, Schnupfen und Husten. Kaum noch der Erwähnung wert, weil gutmütig im Hintergrund. Im Vordergrund immer wieder fiebrige Schübe und ein unglaubliches Schlafbedürfnis. Ich bin in ganz ungewohnter Weise geschwächt.

Im Laufe des gestrigen Tages hat sich ein Druck im linken Unterkiefer spürbar gemacht, den ich jetzt für den Auslöser all meiner Kränkelei halte. Irgendeine Entzündung im Unterkiefer. Gerne würde ich mal mit jemand darüber reden. Aber während des Sesshins ist das nur schwer möglich. Ich hoffe, dass ich nach dem Sesshin die Entzündung mit Antibiotika platt machen kann. Wenn das so einfach geht, ich muss mich beraten lassen. Als einer der jüngeren hier sollte ich bei den älteren genügend medizinische Erfahrung finden.

Im Moment beginnen Kopfschmerzen, auch das eine neue Erfahrung. Ebenfalls links, genau wie die Nebenhöhle, von der ich kurz befürchtete, sie sei der entzündliche Übeltäter. Ich glaube aber, dass ich die Nebenhöhle mit Imaginationen während der Meditation frei gekriegt habe.

Mit dem Unterkiefer will das bis jetzt nicht gelingen. Vielleicht fehlt mir das richtige Bild oder irgendetwas anderes. Alles sehr unklar, das!

Jetzt kehren!

<O>

Heute Nachmittag Eucharistie. Wollte ursprünglich nicht teilnehmen, saß dann aber auf einmal doch drin, weil ich auf der Ankündigung mal wieder Thursday mit Tuesday verwechselt habe. Und dann Reginas Ankündigung falsch verstand.

Habe also den Gottesdienst mitgemacht und gegen Ende gibt es dann ja Blut und Fleisch Christi. Hatte beschlossen, das ganze Programm mitzumachen und als ich dann plötzlich die Hostien und den Wein vor mir hatte, habe ich es erst begriffen: Wein, Hostien darin eintunken, essen und weitergeben.  Kein Gottesdienst, sondern der lustigste Rückfall der Welt.

Interessant ist , dass wirklich sofort der Gedanke kam, die Erfahrung zu wiederholen. Nur ein Glas Wein, vielleicht mal als Stimmungsaufheller? Nein, das werde ich wohl lassen. Aber die Lust auf “mehr” war wirklich sofort da.

<O>

Heute Mittag abermals starke Kopfschmerzen links, die circa eine Stunde anhielten und dann wieder verschwanden. Stärke so, dass ich über Schmerzmittel nachgedacht habe. Könnte sein, dass sie gerade wieder beginnen. Vermutlich komme ich aber früh genug ins Bett, nur noch ein Stündchen meditieren.

Donnerstag, 20.01.2000

Freitag, 21.01.2000

Samstag, 22.01.2000
Einige unsortierte Gedanken.

Internet absuchen nach

      • Fuller und Dome
      • Hofstadters Metamagicum.
      • Wing Chun
      • Zendo

Seiten sammeln, die über Dinge berichten, die mich mal mehr beschäftigt haben. Verweist auf digitale Darstellung meines Lebens

      • Zwiegespräch,  Excerpt machen, Helen darüber schreiben
      • Idee Kursangebot umsonst und draussen
      • Werkzeug zurückziehen und sortieren
      • Eventuell Kinderwagen ebenfalls an großen Wagen anschließen
      • Finanzplanung neu, wofür will ich Geld ausgeben?

Mir gehen unglaublich viele Dinge während der Meditation im Kopf herum. Ist dann gewiss nicht mehr Zen. Nennen wir es Introspektion! Soll ja auch heilsam sein. Und gleich geht’s weiter.

Sonntag 23.01.2000, morgens
Ende der Sesshins nach dem Frühstück.

Zwischendrin habe ich einen Tag verloren, war der festen Überzeugung, dass heute Samstag sei und das Sesshin einen Tag früher als geplant endete. Ist aber nicht so, wie ich mir glaubhaft versichern ließ. Insgesamt ist dieses Sesshin von meinen “verschieden” Krankheiten überschattet gewesen und wenig “erfolgreich” im Sinne der Zen-Meditation. Wenig bei meinem Atem geblieben, immer wieder die “Vermehrung der Begriffe” (sich in Gedanken verlieren). Manchmal erlaube ich mir das auch mal, es kann entspannend sein oder auch von schmerzenden Knien ablenken.

Auf der positiven Seite steht, ob Zen oder nicht, dass es mir relativ leicht gefallen ist, die langen Zeiten durchzumeditieren oder zumindest von außen den Eindruck zu erwecken. Ich neige dazu, meine Leistung abzuwerten, bemerke ich gerade. Auch eine solch lange Zeit der Introspektion ist einiges wert.

<O>

Gedanken an […, der mich mal sehr verletzt hat]

Für welche Teile unserer Geschichte könnte ich mich von den “Begriffen” trennen, den Erwartungen, den Vorstellungen, wie etwas zu sein hat. Zum Beispiel Freundschaft. Und wo ist Vergebung möglich? Ich glaube, Vergebung ist mir möglich, aber da ist die große Angst vor der Wiederholung, die Angst, abermals verletzt zu werden.

Da ist auf kindlichem Niveau ein “Ich will wieder gut mit dir sein, wenn du mir versprichst, das nie wieder zu tun.”

Montag, 24.1.2000
Mein Leben kommt mir sehr klein und nichtig, wertlos vor. Nichts womit ich renommieren könnte. Oder zumindest nichts, womit ich vor mir selbst renommieren und bestehen könnte. Was habe ich getan? Was habe ich in die Welt gebracht? Wie wenig da ist!

Wechsel vom Brief zum Tagebuch. Der Brief soll positiv bleiben und zumindest nicht zu depressiv werden. Sitze vorm Blatt und springe von Gedanken zu Gedanken, wie ich das manchmal auch während der Meditation mache.

Viel lieber aber wäre ich in unserem Gemeinschaftsraum, die Füße auf den Ofen gelegt und mit irgendwem über irgendein nichtiges Etwas ein Gespräch führen. Bewirkt Meditation irgendetwas bei mir? Im Moment zumindest geht es mir schlechter als gewohnt. Depressive Gedanken, Gefühle des Unwerts.

Dienstag 25.01.2000
Hepar sulfuris, alle drei Stunden drei Kügelchen für zwei Tage.

Mittwoch, 26.01.2000
Wanderung zum Peak.

Donnerstag 27.01.2000
D.E. Harding Book of Leben und Tod.
Leseempfehlung des Roshi.

Heute fragt Ama Sami mich, was ich gerade lese und bietet anschließend an, mir Literatur zu empfehlen (siehe oben). Ich solle das mal lesen, wir könnten darüber reden, “beside the tea” und dann “maybe he would give me another one.” Ach ja! Das Gewechsel zwischen Englisch und Deutsch.

Ich finde es schön, dass er auf mich zugekommen ist, wenngleich es mich auch etwas unter Druck setzt. Zumindest muss ich mich ja formulieren in Bezug auf das Gelesene. Und das ist nicht immer einfach. Vielfach habe ich ähnliches ja schon gelesen, vielleicht sogar verstanden in dem Sinn, wie es einst hingeschrieben war. Nur erfahren habe ich es gewiss noch nicht. Wie also sich darüber äußern?

Morgen kommen 15 Schüler von der Kodai-Schule und ich habe erstmals Misstrauen in mir gespürt. Mein Geld, das die ganze Zeit in einem unverschlossenen Zimmer lag, versteckt. Die Jungen sind ja manchmal weniger gefestigt, sage ich mir.

Muss ich mir darüber Gedanken machen? So wenig wie über anderes.

In mir scheint etwas zu sein, dass einen Ausgleich zur Heiligkeit sucht. So wie ich damals nach meiner Zendo-Zeit in diesen dusseligen Horrorfilm musste. Habe mich eben lange damit entspannt, die mitgebrachten Pin-up-Girls anzuschauen (nach der Lektüre eines Teils der vom Roshi empfohlenen Literatur).

[… .] Trotzdem, meine Libido ist ruhelos am hin- und herschweifen. Selbst an alte Frauen heftet sie sich, wenn keine jungen da sind. Und hier sind gerade keine jungen. Obwohl, Amelie ist heute wiedergekommen. Nun, auf diese Weise habe ich in “jungen” Jahren schon erfahren dürfen, wie der alte Schwerenöter dann die gleichaltrigen Frauen anschauen wird. Und auch im Alter gibt es grosse Unterschiede. Manchen der alten Damen hier sieht man noch an, wie schön sie einmal gewesen sein müssen. Es wäre richtiger zu sagen, dass sie noch immer schön sind, nur eben gealtert.

Ein anderes großes Thema neben den Frauen ist Gewalt und Rache. Das geht mir im Kopf herum. […, der Typ], den ich an die Wand gestellt habe [und aufgrund dessen ich dann einigen Ärger hatte], ruft Rachegelüste in mir hervor. Zugleich auch die Gewissheit, dass jede Rache in letzter Konsequenz auf mich zurückfallen würde. Also nichts mit Rache. Aber schwer, sich davon zu trennen.

Und dann Gedanken an […], überhaupt nicht zu lösen, alle Probleme, die ihn betreffen. Weil da keine Vernunft ist, kein gemeinsames Weltbild, nur Wahn. Vielleicht wäre ich in einer ähnlichen Welt wie er, wenn ich meine Rachegedanken für Realität oder echte Pläne halten würde. Wenn ich versuchen würde, sie auszuführen. Wie leicht es ist, sich im Wahn zu verlieren.

Aber es bleibt das Gefühl der Bedrohung, die von ihm ausgeht, und mir fällt nichts anderes ein, als Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Was überhaupt keine Lösung sein kann. Vielleicht hat der Buddha Sex & Crime vergessen in seiner Aufzählungen der wirklichen Probleme.

Freitag, 28.1.2000
Habe eben hinten [ins Tagebuch] Hannahs Bild und ihren Erinnerungszettel für mich eingeklebt. Vielleicht weil ich mich einsam fühle und gerne zu Hause wäre. Eine sentimentale Aufwallung. Ein Anfall von Weinerlichkeit. Wie auch immer, ich glaube, die nächsten Jahre werde ich zu Hause bleiben oder Helen und die Kinder mitnehmen (oder nur Helen oder ganz jemand anderen, falls Sie mich zum Teufel jagt).

Ich muss diese letzte Klammer schreiben. Ich bin mir ihrer nicht mehr auf selbstverständliche Art und Weise sicher, obwohl ich es gerne wäre. Aber das ist zuerst intellektuell und letztlich auch aus Erfahrung nicht möglich.

[…] Vor mir auf dem Schreibtisch liegt aufgeschlagen der Wasserfarbkasten, daneben mehrere vorbereitete Untergründe für Mandalas. Aber nichts zieht mich an. Der Gedanke an das Malen langweilt mich schon. Keine neuen Ideen in mir und wenig Antrieb, die alten zu wiederholen. Mir fällt dieser Tipp ein, mit dem Kulturschock umzugehen. Nein, ich habe keinen! Es wäre ratsam, sich Dinge mitzunehmen (Kassetten, Bücher, Sportzubehör, etc.) mit deren Hilfe man sich seiner Identität versichern könne. Dinge, die man zu Hause mag und die auch im Ausland funktionieren. Der Farbkasten ist ein fehlgeschlagener Versuch, diesem Tipp nachzugehen. Ansonsten ist da nicht viel, das Tagebuch noch und ein deutsches Buch, das ich endlich nicht nur lesen, sondern auch verstehen will.

Nein, das einzige, was funktioniert, um mich zu fühlen, wie ich mich manchmal zu Hause fühle, ist die Form [eine festgelegte Abfolge von Bewegungen, die der Automatisierung eben dieser Bewegungen im Kampf dient]. Sie gibt mir ein Gefühl der Identität, des Ich-Seins. Aber man kann nicht dauernd die Form machen und die Wirkung ist ja auch nur begrenzt.

All das bestätigt natürlich die buddhistische Sicht, das Fehlen eines Ich. Da ist kein Günther übrig, wenn man ihn aus seiner gewohnten Umgebung nimmt. Da formt sich etwas Anderes, Neues in einer neuen Umgebung, das sich gewohnheitsmässig Günther nennen lässt, gewiss auch äußere und innere Ähnlichkeiten aufweist, zu dem, der vorher war. Aber doch unterschieden von vorher ist, wie die vorherige Umgebung zur jetzigen. Es gibt keinen inneren Kern des Günther-seins. Es gibt nur ein Ego, das sich für Günther hält und dem das Beschriebene gar nicht gefällt und das sich durchaus in Erinnerung bringt.

Durch Missstimmungen wie der gegenwärtigen (“Bring mich heim, dorthin, wo ich unzweifelhaft existiere!”) oder durch Fantasien von Allmacht und Ohnmacht.

<O>

Frischer Wind in unserer kleinen Gemeinde. “The students” sind da, eine Gruppe indischer Schüler, die sich drei Tage lang Meditation anschauen. Ziemliche Unruhe, keiner weiß, wie und wo. Bis jetzt sind die Untergruppen noch getrennt. Aber mehr als ein Abendessen hatten wir ja auch noch nicht zusammen. Zusammen mit den “students” sind zwei deutsche Zimmerleute gekommen, die hier in Indien auf der Walz sind. Machen in der Schule den Spielplatz neu. Und nehmen jetzt eben auch die Zen-Meditation mit.

Für die Youngsters gibt’s heute Abend eine leicht veränderten Ablauf, zweimal 15 Minuten, danach Ende für Sie und nochmal 25 Minuten für uns, die wir die Nummer hier gewohnt sind.

Samstag, 29.1.2000
Die 25 Minuten für uns wurden dann doch abgehängt, vermutlich einfach so. Aber trotzdem ein Zeichen, dass es “wir” und “sie” so wenig gibt wie “ich” und „du“.

Sonntag, 30.1.2000
Montag, 31.1.2000
Dienstag,1.2.200
Mittwoch 2.2.2000

Donnerstag, 3.2.2000
Vielleicht ist auch das Zen, tagelang nichts mitzuteilen zu haben. Entleerung? Was-auch-immer, im Übermaß ist es schwer auszuhalten. Wenn ich zu lange schweige, gehe ich mir verloren. Selten so deutlich erlebt, wie wir alle uns immer wieder durch Kommunikation erschaffen. Wie wir diese Oberfläche erschaffen, an die andere ihre Vorstellungen und Erwartungen heften können. Und die uns selbst Stabilität gibt.

Oder: ich gebe dem Gegenüber eine Vorstellung von mir. Ich übermittle ihm meinen Wert (gelegentlich wohl auch Unwert) in der Hoffnung, dass er mich in dieser Vorstellung von mir bestätigt und wertschätzt

Umgekehrt: Wenn der andere nichts über mich weiß, weiß auch ich weder mich noch ihn einzuschätzen.

Ein wichtiger Teil meiner Identität ist es, Wagenbewohner zu sein. Wagenbewohner zu sein hat für meine Selbstdarstellung den Wert eines Berufs. Dies ist es, was ich zuerst über mich mitteilen möchte. Ich lebe im Wagen. Erst danach kommt die Familie. Und dann vielleicht meine Vielseitigkeit, dokumentiert durch meine Berufe und Jobs und Fähigkeiten.

Zuletzt [im Sinne von am Wenigsten] möchte ich mitteilen (oft zuerst erfragt), dass ich mit all meinen Fähigkeiten doch abhängig von der Arbeitslosenhilfe bin. Ein Makel heftet daran. Je nach Laune kann ich das anerkennen oder abstreiten. Am Ende aller inneren und äußeren Diskussion bleibt die Frage, was ich der Gesellschaft zurückgebe dafür, dass sie mich alimentiert.

Das ist nicht nichts, aber es bleibt oft das Gefühl, es sei zu wenig. Aber mit diesem Gefühl, nicht zu genügen, bin ich aufgewachsen. Also: “nicht genug” gemessen an welchem Maßstab?

Diesen Maßstab zu erarbeiten, könnte eine interessante Aufgabe sein. Beginnen wir (wer noch?) mit dem Geld. Sagen wir, besser: ich, meine Arbeitsstunde ist 25 Mark wert. Bei 1600 D-Mark monatlich schulde ich der Gesellschaft 64 Arbeitsstunden pro Monat, heisst 16 Stunden pro Woche (grob gerechnet) oder zwei Arbeitstage.

Zwei Arbeitstage sollten also ausgefüllt sein mit Tätigkeiten, die im weitesten Sinn der Gesellschaft zugutekommen.

Also:

  1. Welche Tätigkeiten, egal ob bezahlt oder unbezahlt, kommen der Gesellschaft zugute?
  2. Welche davon übe ich aus? In der Beantwortung werden wohl beide Fragen zusammenkommen.

Brainstorming: ehrenamtliche Arbeit, Erziehungsarbeit, Sozialarbeit, Umweltschutz, Bildungsarbeit individuelle Hilfe.

Zwischenfrage für den Erbsenzähler: Diejenigen Tätigkeiten, die andere Berufstätige nebenbei erledigen, darf ich mir die so ohne weiteres gutschreiben? Diese Frage erstmal vernachlässigen, aber im Auge behalten.

Gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten
Ehrenamt
Nehmen wir die Arbeit im Weltladen. Unbezahlte Bildungsarbeit, die von gesellschaftlich anerkannten Institutionen immerhin mit großen Beträgen bezuschusst, das heißt wertgeschätzt wird. (Und schon taucht wieder eine Zwischenfrage auf. Wie drückt sich die gesellschaftliche Wertschätzung einer Tätigkeit aus? Zuschüsse, Steuererleichterungen, Rentenausfallzeiten, allgemeine Anerkennung und soziale Einbindung, was noch?)

Soweit diese Wertschätzung benennbar und nachvollziehbar ist, ist sie in der „rechtfertigenden“ Diskussion ein großer Pluspunkt. Für jede Vereinsarbeit bedeutet das, dass Gemeinnützigkeit ein wichtiges Kriterium ist. Okay, die Arbeit im Weltladen ist also unzweifelhaft gute und nützliche Arbeit. Bei entsprechender Ausweitung des Engagements könnte ich auf einen Arbeitstag bzw. 8 Stunden kommen.

Wie ist das mit der Vereinsarbeit für den Pool [der Wagenplatz, auf dem ich lebe]? Zunächst ist der gesellschaftliche Wert nicht durch Gemeinnützigkeit dokumentiert, vordergründig werden nur eigene Vorteile geschaffen. Für die Gesellschaft fallen nur Brotkrumen ab, als da wären: Erhaltung der kulturellen Vielfalt, Lebenswelt für Aussenseiter (Wagenplatz statt Neurose), sparsamer Umgang mit den Ressourcen (Strom, Wasser, Energieeinsatz für Wohnraum) Erkundung von alternativen Techniken und Lebensweisen, Modellcharakter, Umweltschutz, soziale Gestaltung, Solidarität. Kurz: der gesellschaftliche Nutzen, wiewohl deutlich erspürt von jedem der sich nähert, ist nur schwer und abstrakt zu fassen, manchmal strittig oder sogar abzustreiten.

Wie ist das mit der Sozialarbeit, die ich dort leiste, einfach deshalb, weil ich dort bin, Sozialpädagoge bin und gar nicht anders kann, als sozialpädagogisch auf die Menschen einzuwirken. Da entsteht gesellschaftlicher Nutzen. Aber wie lange am Tag bin ich am Platz Sozialpädagoge und wie lange selbst Sozialfall? Sagen wir eine Viertelstunde pro Tag, sonntags frei, macht eineinhalb Stunden pro Woche.

Was ist mit Umweltschutz? Gesetzt der Fall, wir bauen den Pool zurück. Ist das gesellschaftlich nützliche Arbeit? Ich glaube ja, obwohl wir als Gruppe zunächst den größten Vorteil davon haben: den Ausblick. Aber darüber hinaus gewinnt auch das uns umgebenden Naturschutzgebiet ein feuchtes Fleckchen hinzu. Wenn eine Zusammenarbeit mit den Schlammspringern zustande kommt, wird dieser gesellschaftliche Nutzen noch besser dokumentierbar sein. (Zwischengedanke: die Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Gruppen sollte irgendwie in die Betrachtung eingehen.)

Nebenbei: Unsere Waschmaschinen-Klo-Kombination dürfte in der Form bis jetzt auch unerprobt und einmalig sein.

Zurück zum Teich, jede Stunde Arbeit daran ist gesellschaftlich nützlich.

Was ist mit der Erziehungsarbeit? Gesellschaftlich nützlich auf jeden Fall. Aber wie bewerten. Die Kinder zu fördern, so gut es geht, ist ihr eingeborenes Recht. Und auch ausdrücklicher Wille der meisten Eltern. Dass Frauen dafür Anerkennung und finanzielle Gegenleistung bekommen sollten, ist den meisten Menschen noch zu vermitteln.  Aber arbeitslose Väter? Natürlich, Väter, die sich kümmern, bekommen Anerkennung. Aber den gesellschaftlichen Nutzen dafür anzuerkennen ist wohl verschieden davon. Es sind ja die eigenen Kinder, wiewohl auch deren in der Welt stehen das Bild der zukünftigen Welt zum guten oder schlechten prägt.

Kurz, ich glaube Erziehungsarbeit als Arbeit in das Bewusstsein zu heben, ist als Mann nur schwer zu leisten. Das muss (und kann besser) von Frauen geleistet werden.

Bleibt die individuelle Hilfe? Was meine ich überhaupt damit? Nachbarschaftshilfe, alten Omas über die Straße helfen? In Notfällen (welchen?) aushelfen, einfach ein guter und hilfreicher Mensch sein. Nein, da fällt mir jetzt nichts mehr ein. Undeutlich alles, wo die Gesellschaft einspringen müsste, es aber nicht tut. (Gedanke: Wie wäre die Mitarbeit an einem Tauschring aufzufassen?)

Bleibt am Ende dieses Eintrags die Erkenntnis, dass gesellschaftlich nützliche Arbeit am leichtesten dort zu vermitteln bzw. zum Zwecke der Rechtfertigung der eigenen Arbeitslosigkeit zu gebrauchen ist, wo sie im Rahmen von als gemeinnützig eingetragenen Vereinen geschieht oder von anerkannten gesellschaftlichen Institutionen bezuschusst wird. Darüber hinaus käme noch das Engagement in Parteien, Bürgerinitiativen oder Aktionsgruppen in Frage, die sich gerade aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen widmen. Daraus folgt:

  1. Weltladenarbeit weitermachen
  2. gemeinnützigen Förderverein für Wagenkultur gründen (damit habe ich den gesellschaftlichen Nutzen vor meiner Tür!)
  3. Arbeit am Teich beginnen.
  4. Legalisierung des Platzes weiter betreiben (das heißt der Gesellschaft eine weitere Lebensweise auch formal einfügen.)

All das Beschriebene ist natürlich für ein Leben genug. Und wo bleiben meine Umbaupläne und der Ausbau der Häuser?  Und mein Interesse fürs Internet und Computertechnologie. Es gilt noch einmal, darüber nachzudenken. Dies aber nicht heute.

4.2.2000, Freitag
5.2.2000, Samstag
6.2 2000, Sonntag

7.2.2000, Montag
Letzter Tag heute. Morgen Aufbruch um 6 Uhr mit dem Jeep zur Busstation, die nach Dindigul führt, von dort nach Chennai. Bin von einigen Menschen hier sehr herzlich verabschiedet worden. Immer wieder die Frage nach dem “nächsten Jahr”. Eigentlich käme ich gerne mit Helen hierher. Aber dann müssten die Kinder versorgt sein. Ob meine Mutter …? Aber für wie lange? Vier bis sechs Wochen müssten schon sein. Nein, was im nächsten Jahr ist, lässt sich jetzt noch nicht wissen.

Hinzu kommt, dass ich noch nicht so recht weiß, was ich von den diesjährigen vier Wochen halten soll. Meine Meditationspraxis hat sich ganz sicher nicht vertieft. Dazu bin ich viel zu oft und viel zu gerne in meinen Fantasien und Gedanken abgetrieben. Habe viel geträumt, diese vier Wochen, stundenlang dagesessen und geträumt. Nun ist natürlich auch das Praxis, nennen wir es mal einen träumenden Buddha. Aber der träumende Buddha ist unzufrieden mit sich. Also ein unzufriedener Buddha, ein Buddha, der sich selbst Vorwürfe macht (Hätte mehr tun können etc.)

Ich weiß also jetzt, wie ich mich wochenlang in Fantasien flüchten kann. Ich kann in und mit meinen Fantasien leben. Sie sind mir so lieb wie das wirkliche Leben. Ich hänge an ihnen. Ich träume mein Leben vorbei.

Das geht auch zu Hause hinter dem Ofen. Fast noch besser dort, nur fällt mir dort nicht ein, zum Atem zurückzukehren, wenn ich unzufrieden werde. Warten wir ab, wie sich diese Erfahrung des Träumens in meinem Leben auswirkt.

Update (31.3.2023): Der dritte und zugleich letzte Teil ist veröffentlicht, wie zuvor mit Einleitung am Veröffentlichungstag und den chronologisch einsortierten Tagebucheinträgen.

Reisetagebuch Indien, Boddhi Zendo, 25.1. bis 25.2.1999

Vorwort zur Veröffentlichung

Postkarte, Boddhi Zendo, 1999

25.1.1999, 112. Tag, Montag

Ankunft in Perumalmalai, Boddhi Zendo. Ein Ort, wie er eigentlich nicht in Indien sein kann. Sauber, still, große Zimmer mit europäischen Toiletten, jederzeit heißem Wasser, Tageszeitungen und Magazinen in großer Auswahl zum Lesen, gutes Essen, Kaffee und Kuchen zum Nachmittag .

Postkarte, Innenhof des Boddhi Zendo,1999

Ein gepflegter Garten und daneben ein Zen-Garten mit Steinen und geharktem Sand, ein kleiner Teich mit Seerosen. Eine Bibliothek mit Büchern zum Thema, riesig und auch mit deutschen Titeln bestückt. Kurz, die äußeren Umstände sind aufs beste arrangiert um frei zu sein für Studienarbeit und Meditation.

Ende des ersten Tages, zweieinhalb Stunden meditiert, was mir zunehmend schwerer gefallen ist. Aber, entgegen meiner Erwartung, keine Schwierigkeiten mit der Kälte, mein Pullover ist ausreichend. Und wenn nicht könnte ich mir eine Decke umhängen, was einige auch tun. Es ist hier nicht so streng, wie in der Gießener Gruppe, von wegen keine Socken anlassen und keine farbige Kleidung. Hier scheint eine Menge zu gehen, solange man nur meditiert.

So und jetzt geh ich ins Bett und mit etwas Glück beim Einschlafen krieg‘ ich noch 7 Stunden Schlaf.

26.1. 1999, 113. Tag, Dienstag

Dieser Ort ist kein Bestandteil der indischen Welt. Seit dreieinhalb Monaten habe ich in keinem so guten Bett geschlafen. Gute Matratze, gutes Oberbett und dick genug für die Temperaturen hier. Das Frühstück supergut, endlich mal genug Kaffee oder Tee, Toast und Samba für den, der indisch frühstücken möchte, Ei, Toast, Butter, Marmelade für die, die es europäisch mögen. Oder von allem etwas, es ist ein Bufett. Nach den Mahlzeiten spült man sein Geschirr und bringt es zurück an den Ort, wo es für die Mahlzeiten bereitsteht.

Auch bei der Morgenmeditation keine Probleme mit der Kälte. Meine größte Sorge war umsonst .

Mein erstes Dokusan, nur eine kurze Begegnung mit der Empfehlung auf die Atmung zu achten. Ein Büchertipp: „Die drei Pfeiler des Zen“ (P. Kapleau). Habe ich schon zu Hause gelesen, aber ich werde es mir raussuchen und bestimmt Neues entdecken

Irgendwie fühle ich mich wie ein Betrüger, der einen Meditierenden mimt, um all die Vorzüge dieses Ortes genießen zu dürfen.

8:00 bis 9:30 Uhr Samu, Arbeit für die Gemeinschaft, ich bin im Garten zum Sandsieben eingeteilt. Schöner feiner Sand soll das sein, an einem Platz der vielleicht 3 × 4 m misst. Dort ist schon Sand, nur feiner soll er sein und all die kleinen Äste und Blätter und Nadeln sollen heraus. Ich mache die Arbeit nicht allein, sondern zusammen mit Klaus, einem anderen Besucher hier. Lieber würde ich es allein machen und mich weniger absprechen müssen, aber es geht auch so.

Meine erste Study-time in der Bibliothek verbracht und mir Literatur ausgeborgt, unter anderem auch ein Buch von Ama Samy selbst. Ich möchte wissen, mit wem ich zu tun habe. „Die drei Pfeiler des Zen“ sind wie erwartet hilfreich.

27.1. 1999, 114. Tag, Mittwoch,
normalerweise ein Tag mit dem Stundenplan, wie er für Sesshins gilt, d.h. 6 Stunden Meditation. Ama Sami hat dies für heute in einen Schweigetag mit dem üblichen Stundenplan gewandelt. Ich vermute, den vielen Neuen, wie auch ich einer bin, zuliebe.

Heute ist mein dritter Tag hier und so langsam spüre ich die Meditation in den Knochen, oder besser wohl Muskeln und Sehnen. Die Rücken- und Nackenmuskulatur beginnt sich zu verkrampfen und der linke Fuß, der infolge meines „verknickten“ rechten Fußes, immer oben liegen muss (beim halben Lotussitz) spürt die ständige Überdehnung. Unwillkürlich beginne ich zu schonen und meine „gute“ Meditationshaltung vom ersten Tag ist dahin.

Auch meine Konzentration ist schlecht. Anders als bei geleiteten oder Bild- oder Mantrameditationen soll bei der Zen-Meditation der „Kopf von Gedanken frei sein“. Das gelingt mir für höchstens zwei Atemzüge. Manchmal merke ich gleich zu Beginn eines Gedankens, dass ich „denke“ und gehe zum Atem zurück. Es kommt aber auch vor, dass ich 5 Minuten (selten mehr) so dasitze, als ob ich meditiere, und meinen Gedanken nachhänge. Wann man das dann endlich bemerkt, kann man sich noch kurz über den Inhalt der gerade bemerkten Gedanken Gedanken machen. Das ist sicherlich lobenswert, Meditation ist das nicht.

Als Frage sollen wir in diesem Schweigetag mithineinnehmen, „wo wir gerade stehen“. Nun, ganz am Anfang würde ich sagen.

<O>

Habe mir heute zum ersten Mal während der Nachmittagsmeditation den rituellen Schlag auf die Schultern geben lassen (dessen Namen ich schon wieder vergessen habe). Ich bin mir unsicher über die Wirkung, aber vielleicht hat er wirklich die Rückenmuskulatur etwas entspannt.

Es ist jetzt 17:35 und das bedeutet, dass der Tag fast zu Ende ist. Außer Meditation und Abendessen kommt jetzt nicht mehr viel (18 bis 19:00 Zazen, 19 bis 20:00 Abendessen, 20 bis 21:00 Zazen). Vielleicht noch etwas lesen.

Ich neige dazu, auch meine privaten Verrichtungen in den Stundenplan hinein zu nehmen. Dieser dritte Tag war dem zweiten sehr ähnlich. […] Nach der Arbeit […] waschen (wer eineinhalb Stunden im Sand spielt muss sich waschen), Escrima und Wing-Chun-Formen zwischen 17:00 und 17:30.

Meine Erfahrungen mit dem Schweigetag sind keine ungewöhnlichen. Es fällt mir nicht schwer, nicht zu reden und manchmal finde ich es beruhigend zu wissen, dass ich zumindest heute nicht von diesem oder jenem in ein Gespräch gezogen werden kann. Allerdings: übermäßige Gedanken um die uns mitgegebene Frage habe ich mir nicht gemacht.

28.1.1999,115. Tag, Donnerstag, unser freier Tag, keine Meditation, keine Gemeinschaftsarbeit (sofern sie nicht unumgänglich ist, z. B. Gemüse schneiden fürs Mittagessen).

Trotzdem ist es natürlich möglich zu meditieren und ich habe das auch schon zweimal jeweils vor den Mahlzeiten getan. Vor dem Abendessen werde ich es wohl auch tun.

Als Feiertagsbeschäftigung bin ich auf den „kleinen Peak“ gelaufen, einen der Berge , die uns hier umstehen. Eine nette kleine Tour, etwas mehr als 2 Stunden hin und zurück. Oben auf dem Gipfel etwas mit der Kamera gespielt, d. h. den Versuch unternommen mit einer schlechten Kamera ein gutes Bild aufzunehmen. Fotografiert habe ich den „großen Peak“, zu dem wir am frühen Sonntagmorgen (4:00 Uhr) als Gruppe aufbrechen wollen. Auf das Bild bin ich wirklich gespannt.

Zwischendrin immer wieder Zeit zu lesen, unter anderem auch das Buch von Ama Samy, das ich aus der Bücherei ausgeliehen habe. Um ehrlich zu sein, ich verstehe vielleicht ein Zehntel davon, es ist nicht für Anfänger geschrieben, sondern ist ein Beitrag zur Diskussion innerhalb der Zen-Gemeinde mit ihren verschiedenen Ausformungen. Immerhin weiß ich jetzt, dass ich in der Tradition der Laien-Zen-Gemeinschaft  Sambokyodan übe (also nicht Soto-Zen, wie die Gruppe in der Liebigstraße, und nicht Rinzai-Zen, wie die Gruppe in Wettenberg).

Ama Sami ist ein ruhiger, sympathischer Mann, der nicht viel spricht. Es war mir relativ schnell möglich, mich in seiner Gegenwart ungezwungen zu fühlen, obwohl natürlich ein Rest Befangenheit (ob der Erleuchtung) bleibt. Er nimmt an den Morgen- und Abendmeditationen teil und auch an den Mahlzeiten. Bei allem ohne irgendwie eine Sonderstellung einzunehmen. Natürlich, bei den Meditationen ist sein Platz „vorne“, aber da sitzen auch noch die vier Assistenten (die Sutras ansagen, Glocken oder Hölzer schlagen und auf die Zeit achten). Während der Mahlzeiten ist sein Platz dort, wo frei ist, genau wie bei uns allen. Heute Morgen habe ich zufällig beobachtet, dass er es war, der unser Spülwasser vorbereitete, indem wir nach den Mahlzeiten unser Geschirr abwaschen, ein „Primus inter Pares“.

29.1.1999, 116. Tag, Freitag

Zu unserer Morgeneditation gehört das Rezitieren von Sutras, zumeist zweimal in der Orginalsprache (keine Ahnung, welche das ist) und dazwischen einmal in Englisch. Der Abschluss ist immer:

Ti Sarana

Ich nehme Zuflucht zum Buddha

Ich nehme Zuflucht zum Dharma

Ich nehme Zuflucht zum Sangha

 

Ebenfalls oft rezitiert werden die vier großen Gelübte:

Die vier großen Gelübte

Zahllos sind die Lebewesen –
ich gelobe alle zu retten.

Unzählige Gefühle und eitle Gedanken –
ich gelobe sie alle zu lassen.

Die Tore zur höchsten Weisheit sind unzählbar –
ich gelobe durch alle zu gehen.

Der Weg des Buddha ist unüberschreitbar –
ich gelobe ihn bis zu Ende zu gehen.

<O>

Je mehr wir uns unserer Erwartungen bewusst sind, desto eher erkennen wir den Drang, lieber das Leben zu manipulieren, als es so zu leben wie es ist.“  Jojo Beck, Zen im Alltag.

<O>

Als ich heute zur Mittagsmeditation kam, hatte jemand für mich mein Kissen und das Leinentuch, das ich zum Unterfüttern für das Knie nehme, ordentlich gerichtet. Die Botschaft ist klar: so sollst du deinen Platz verlassen! Ich hatte es vergessen, war einfach aufgestanden und hinausgelaufen. Tja, so kommt man niemals zur Erleuchtung, vermutlich nicht mal zu den kleineren „Belohnungen“, die dem Übenden auf dem Weg zufallen sollen.

<O>

„Es ist einfach dumm, immer wieder dasselbe zu tun und unterschiedliche Ergebnisse zu erwarten.“ Bruno M. Schleeger

<O>

 „Would you rather be right or happy?“ Jerry Jampolski

 

30.1.1999, 117 der Tag, Samstag

Habe gestern Abend zu viel gegessen, was sich bei der anschließenden Meditation und selbst heute Morgen noch ausgesprochen störend ausgewirkt hat.

Vom Ende des Abendessens bis zum Ende des Frühstücks ist Schweigezeit, wobei sie zumeist in der Mitte des Frühstücks durch das zusammenschlagen von zwei Hölzern abgekürzt wird. Heute war das nicht so, stattdessen hatten wir Musik zum Frühstück, Klavier und Gitarre, klassisch, aber doch nicht. Trotzdem war die Stimmung auf’s Angenehmste verändert und ich blieb einige Zeit sitzen um der Musik zuzuhören, der ich unter anderen Umständen nichts hätte abgewinnen können.

Heute Morgen bin ich das erste Mal etwas unwillig erwacht, „zu früh“, „zu müde“, etc., im Kopf, vielleicht liegt es am Schnupfen, vielleicht am vielen essen; wie auch immer, wenn ich unwillig bin, dann mache ich halt unwilligen Zen.

<O>

Meine Klobrille ist vom Typ „Champion“, besser noch „from the makers auf Commander“. Ich muss immer wieder schmunzeln, wenn ich mir einen Typ vorstelle, auf dem Klo sitzend und fühlend wie ein Champion oder ein Commander. Wer fühlt sich von solchen Produktnamen angesprochen?

<O>

 Zen ist mühsam!

 

31.1.1999, 118.Tag,  Sonntag

3:45 Uhr, in einer Viertelstunde Aufbruch zum „Peak“. Wir wollen schweigend aufsteigen, angeführt von Stephan, der den Weg kennt. Es ist Vollmond und so werden wir den Weg finden, sagt er.  Ich habe keine Erfahrung mit Vollmondwanderungen. Auch nicht mit Wanderstöcken, er hat empfohlen einen mitzunehmen, also habe ich mir einen aus den alten Ästen herausgeschnitten.

Im Rucksack (geliehen) habe ich eine Decke und einen zweiten Satz Kleidung, denn wir werden feucht werden vom Morgentau und auf dem Peak wird Wind sein. Klingt nicht einladend, trotzdem verspreche ich mir ein Erlebnis.

<O>

Schön war’s. Einen Wanderstock zu haben war sehr gut. Da wir nachts wanderten – auf zum Teil steinigen, zum Teil von Büschen überwucherten Pfaden, ersetzte er einen Teil der Sichtfähigkeit. Ob dunkle Flecken Löcher, feuchte Stellen, Kuhscheiße oder einfach nur dunkle Flecken sind, lässt sich bei Mondschein auf die Schnelle nur mit einem Stock entscheiden. Auch Höhenunterschiede und Steigungen lassen sich mit ihm gut vorausahnen und wahrnehmen. Stichwort „vorausahnen“, was der Stock da übernimmt ist vermutlich rechtshirnig (intuitiv), das heißt linkskörperlich. Das fällt mir auf, weil ich nach einer Zeit total verkrampft in Arm und Schulter war, als ich den Stock rechts trug. Auf der linken Seite war das alles kein Problem mehr.

2 Stunden sind wir in der Nacht gewandert, haben kleine Mauern und Bäche überquert und sind lange Zeit im Wald gelaufen. Dann nach einem letzten steilen Stück, sind wir auf dem Gipfel, einer zu den Rändern hin leicht abschüssigen und baumbestandenen Wiese.

Dort angekommen war es so kalt und windig wie erwartet. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, wenn es auch schon dämmrig war. Die im Rucksack mitgebrachte Decke tat gute Dienste und kurze Zeit später gab es auch ein Lagerfeuer zum wärmen. Das erste seit annähernd vier Monaten, das den Namen wirklich verdient. Die Lagerfeuer am Abend habe ich vermisst. Stefan hatte ein Frühstück für uns mitgenommen; Brot, Marmelade, Hefezopf (!), und selbst auf Kaffee mussten wir nicht verzichten.

Während des Frühstücks ging die Sonne auf und bald darauf wurde es merklich wärmer. Die Decke konnte lockerer gefasst werden, das Lagerfeuer etwas niedriger brennen. Gespräche begannen in kleinen Gruppen, manche ruhten, andere erkundeten den Gipfel. Ich unterhielt mich mit Regine und irgendwie kam es, dass ich mein ganzes „Päckchen“ aufpackte, das ich hier so mit mir herumtrage, die ungeklärte Wohnsituation, das Petershaus (an dem ich noch immer hänge), meine Eltern und Gerhard. Es tat gut, das alles einmal zu erzählen.

An einer Stelle brachte ich sie zwei für mich bis dahin unverbundenen Fakten für mich überraschend zusammen. Ich hatte schon beschrieben, dass […]. Und, merkte ich an, selbst wenn  […].

„Und das erklärt, warum du nicht mehr bei deiner Familie bist!“. Oder so ähnlich, sagt sie. Später fiel mir dazu die Vogelmutter ein, die bei Gefahr den Fuchs vom Gelege weg lockt.

Ich weiß nicht, wie viel an dieser Erklärung dran ist, aber sie geht mir nach. Vielleicht auch nur, weil sie so ehrenhaft ist, mich so gut aussehen lässt.

Zum Abstieg (9:00) war es dann schon so warm, dass wir unsere Pullover ausziehen konnten. Nun konnten wir auch die Landschaft sehen, durch die wir gingen. Eindrucksvoll alles, insbesondere aber die Rhododendronbäume mit ihren roten Blüten. Was bei uns als Busch so vor sich hin mickert wird hier ungepflegt zum ganzen Baum!

<O>

Am Nachmittag eine kleine Geburtstagsfeier für Rudi, den Schweizer, der hier den Garten betreut. Nur ein Gedanke dazu. Die Menschen, die hier länger oder wiederholte Male sind, haben so etwas wie eine Sangha (eine Gemeinde, Gemeinschaft) gebildet und achten aufeinander und sorgen füreinander. Ich bin etwas neidisch auf ihr Zusammengehörigkeitsgefühl (falls das nicht nur eine Projektion meiner eigenen Sehnsucht ist). Nein, ich bin neidisch, auch wenn es nur eine Projektion ist.

1.2.1999, 119. Tag, Montag

Heute beim Samu aus Versehen eine dreiviertel Stunde länger gemacht. Nachdem ich den Sand gesiebt hatte, der in einem kleinen „Becken“ lag, fiel mir auf, dass ein Stück der Mauer zum Becken hin angefangen, aber nicht beendet war. Ich fing also an das „mal schnell“ zu ergänzen, mit obigem Ergebnis.

Morgen werde ich zur Samu wohl mein Zimmer räumen und putzen müssen, da die „zuerst bewilligte“ Zeit um ist. Für die Zeit des kleinen Sesshin muss ich in eine Behelfsunterkunft umziehen, danach wird bis zum „großen“ Sesshin wohl wieder ein Zimmer frei sein.

„Im Gegenteil [in Bezug auf „Probleme loswerden“], ich versuche der betreffenden Person das Problem zurückzugeben, indem ich ihr aufzeige, worin seine Notwendigkeit, sein Sinn, vielleicht sogar sein Wert bestehen. “
Thomas Moore, „Seel-Sorge“

Wenn es auch nicht der Sinn sein mag, so ist der Wert […] doch, dass der Fuchs nicht an das Gelege kommt.

<O>

Ein Thema, das beständig in meinen Meditationen auftaucht, ist das Peters-Haus. Es ist, als hätte ich den Anruf von Frau Peters mit der Absage an mich („das wird jetzt ein Wochenendhaus“) nie gegeben. Es ist, als wäre noch immer alles offen und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit bekäme ich es. Es ist, als sei es mein Platz, es sei mir schon sicher und ich müsste mir nur Gedanken machen, was nun damit geschehen soll.

Ich denke an Umbauarbeiten, an Gartenwege und Gemüsebeete. Gerade den Garten sehe ich in der Perfektion [ähnlich wie] hier im Zendo. Nach sechs Tagen Sand sieben denke ich an [?].

Aber der Umbau der Häuser ist stark im Hintergrund. Im Garten steht mein Bauwagen, manchmal noch nicht einmal das, und ich pflege den Garten. Das Steinhaus bedarf der Reinigung in jedem denkbaren Sinn und muss vielleicht eine Zeit lang leer stehen. Das Holzhaus ist durch die vorzunehmenden Renovierungen „selbstreinigend“ (beim Arbeiten Räucherstäbchen abbrennen!) . Das Vorderhaus ist weitgehend frei von schlechten Energien, vielleicht, weil es so lange leer gestanden hat. Es genügt, dass in der richtigen Stimmung zu beziehen. Behutsam und mit der Frage, wie ein cooles Leben darin zu organisieren ist. Stück für Stück wird es langsam bezogen sein, kein schneller Einzug.

Diese durchweg positiven Fantasien unterscheiden sich stark von den Gedanken, die ich zu Hause und auch während der Reise manchmal hatte. Darin sah ich das Peters-Haus, besser Peters-Grundstück, als ein zu verteidigendes Gut gegen Übergriffe von außen, Einbrecher, Randalierer, andere Räuber et cetera. Ich dachte über Sicherheitsvorkehrungen nach, wie vergitterte Fenster und Stromfallen, Notausgänge und letzte Rückzugs- oder Verteidigungsanlagen. Die einsame Lage ist die schwere Seite der Idylle. Ich wünsche mir die Ruhe und habe Angst vor Einsamkeit.

2.2.1999, 120. Tag, Dienstag
Samu: Unkraut aus der Wiese jäten. Und es tut gar nicht weh!

3.2.1999, 121. Tag Mittwoch
Zweites Dokusan […]

4.2.1999, 122. Tag, Donnerstag

Im Samu gestern wurde mir das Wässern der drei Terrassen rechts vom Teich und Zen-Garten zugeteilt. Die erste Aufgabe, die ich nicht mag. Die Arbeit selbst ist O.K., aber die Umstände sind schwierig. Mal ist der Schlauch belegt, mal kein Wasser da. Wenn der Schlauch da ist, reicht er an manche Stellen nicht hin. Eine Verlängerung muss geholt werden. Es gibt keine Treppen an den benötigten Stellen, sodass ich durch den angesäten Hafer laufen muss, was ich auch nicht mag (der Hafer vermutlich noch viel weniger). Und so weiter. Zudem bedarf es manchmal der Absprache mit den anderen Gärtnern, was auch nicht immer einfach ist, zumal der „Obergärtner“ gerade auf einer Fortbildung weilt und daher nicht gefragt werden kann.

Immerhin, ich bekomme etwas „Feeling“ für die Gartenarbeit und könnte mir vorstellen zu Hause einen Garten mit Spaß und auf unterstem Niveau zu haben. Aber das ist nur eine vorsichtige Annäherung, die noch überprüft sein will.

<O>

Auch an etwas anderes nähere ich mich nur vorsichtig; mein erstes Koan, das ich gestern in der Dokusan erhielt. Weder rechnete ich mit einem Koan, noch hätte ich mir eines gewünscht. Eigentlich dachte ich, die Koanarbeit wäre nur für fortgeschrittenere Schüler, als ich einer bin. Wenn ich versuche, einen Grund zu finden, warum ich das Koan bekommen habe, so fällt mir nur eine ein: die Koanarbeit zwingt mich in die Beziehung zu Ama Samy. Atemzählen und -beobachten oder Shikantaza, die inhaltslose Versenkung, geht alles ohne Meister, Koanarbeit nicht.

Aus den Büchern hatte ich eine vage Vorstellung, was die Arbeit mit einem Koan bedeutet. Da ich aber sicher war, dass ich für lange Zeit nicht davon betroffen sei, habe ich nie zu sehr in die Sache hineingedacht. Nun, da ich betroffen bin, stoße ich an erste Verständnisschwierigkeiten. So dachte ich zum Beispiel, dass die Koanarbeit eine Fortsetzung der Shikantaza, der inhaltslosen Versenkung, sei, nur eben auf mir undeutliche Weise nun mit Inhalt vermischt. Mir zumindest ist es nicht möglich einerseits [nicht] zu denken und andererseits eine Frage in mir hin und her zu wälzen. Koanarbeit scheint schon vom Ansatz etwas anderes zu sein, absolut verschieden. Aber das muss ich nachfragen.

[…] Am angemessensten erscheint mir gegenwärtig eine Analogie, ein Bild, als Lösung. Aber, soviel weiß ich schon jetzt, das ist nur eine Annäherung und noch nicht die Lösung. Wäre ja auch zu schön, Erleuchtung in zehn Tagen. Nun, ich arbeite dran.

An dieser Stelle bedarf es einer Erläuterung. Ich schreibe um das Koan herum, weil ich vielleicht diese Aufzeichnungen abermals an H. schicken werde, das Koan aber nicht mitgeteilt werden soll. Alle Notizen zum Koan, die mehr als allgemeiner Natur sind, mache ich auf extra Seiten, die ich nicht mitkopiere.

<O>

 20:00 Uhr, Beginn des Mini Sesshin, das bedeutet bis Sonntagmittag schweigen und jeden ein Tag siebeneinhalb Stunden Meditation.

[…]

5.2.1999, 123. Tag, Freitag

  • Stimmung beim Warten auf das Dokusan
  • Das Chaos beim Herausgehen aus dem Zendo
  • Ama Samy beim Spülen

16.35 Uhr, schon 5 Stunden hinter mir heute, der Rücken ist verspannt und die Fußgelenke tun weh. Und noch immer zweieinhalb Stunden vor mir.

Diese Stundenzählerei macht natürlich keinen Sinn, eigentlich macht sie es sogar schlimmer. Man muss es einfach tun und an die Zeit gar nicht denken. Da ist die Übung und sie wird gut tun. Soweit die Theorie!

Insgesamt hat man beim Sesshin sehr viel weniger Zeit für sich selbst. Zu viel mehr als schlafen, essen, meditieren kommt man nicht (arbeiten habe ich vergessen). Vielleicht zweieinhalb Stunden bleiben, die man den Kopf und die Zeit wirklich frei hat.

6.2.1999, 124. Tag, Samstag

  •  große Müdigkeit
  •  Große Zweifel
  • sich verkriechen wollen

Dann kommt die Sonne durch und meine Stimmung bessert sich.

Es beginnt an die Grenzen zu gehen. Warum eigentlich nicht weiter leben wie bisher? Ist sich verbessern, verändern zu wollen nicht nur eine eitle Idee?

<O>

 – Gerhard und die Kippe in der Sanyas-Disco

<O>

Über die Hälfte des Sesshins ist vorüber und ich will versuchen, es zu beschreiben. Aber das fällt schwer. Äußerlich passiert ja nicht viel. Einmal am Tag gibt es Teisho, einen Lehrvortrag des Meisters, der etwa eine halbe Stunde dauert. Davor und danach Sutras. Dies ist das einzige, wenn man von den wesentlich längeren Meditationszeiten absieht, was einen Sesshin-Tag von einem normalen Tag hier unterscheidet.

Das Entscheidende sind also die langen Meditationszeiten. Aber was machen die? Mir schmerzende Knie und Schmerzen im unteren Rücken, mal mehr, mal weniger und manchmal auch kaum. Wovon die Schmerzen abhängen habe ich noch nicht genau raus; die Zeit, die ich gesessen habe ist nur ein Faktor. Bei manchen scheint es auch psychisch schwieriger als sonst zu sein. Ich sehe traurige Gesichter und manche geben sich etwas „heiliger“ als sonst. Ich, vermute ich, sehe einfach angestrengt aus; in „schwierige“ Bereiche meiner Psyche bin ich bis jetzt nicht vorgestoßen. Es fällt mir sehr schwer mich zu konzentrieren, bei mir zu bleiben; ich gleite leicht in Tagträumereien ab. Dabei gibt es kein bestimmtes Thema (das Peters-Haus ist etwas in den Hintergrund getreten), manches scheint geradezu belanglos. Ich sitze unruhiger als sonst, muss öfter die Haftung korrigieren, tief Luft holen, mache unwillkürliche Bewegungen, etc. …

All das ist o.k. und ich bin der Einzige, den das stört. Ama Samy hat uns deutlich genug gesagt, dass es hier nicht um Leistung geht. Schon eher um das Versuchen und darum, immer wieder zur Übung zurückzukehren, anzuschauen was an Ablenkung vorbeikommt und zur Übung zurückzukehren. Immer und immer wieder. Natürlich kommen da irgendwann Zweifel am Sinn der Übung, die Entschlossenheit wird auf eine harte Probe gestellt und ich glaube, dass dreiviertel der Menschen hier wieder gehen würden, wenn sie alleine sitzen würden. So aber hilft die Gruppe beim durchhalten.

Aber wofür das alles? Für die Erleuchtung? Für die kleinen Belohnungen am Weg (von denen manche Autoren behaupten, es gäbe sie nicht)? Wenn das das Ziel ist, funktioniert es nicht. Also versuche ich mir einzureden, ich wolle keinen „Vorteil“ rausholen. Aber das stimmt natürlich nicht. Ich will, dass es mir besser geht und ich will die kleinen Belohnungen. Und ich weiß, dass ich dafür möglicherweise jahrelang mit schmerzenden Knien unkonzentriert vor mich hin starren muss. Ob ich diese Entschlossenheit mitbringe weiß ich nicht. Entschlossenheit ist die dritte der Voraussetzungen für einen Zen Schüler.

GLAUBE, dass der Weg des Buddha funktioniert.
ZWEIFEL an allen bisher versuchten Lösungen für das „Problem“ Leben.
ENTSCHLOSSENHEIT im Üben .

<O>

Eineinhalb annähernd schmerzfreie Meditationsstunden.

Arul Maria Arokiasamy, „Leere und Fülle“, das zweite Buch, das ich von Ama Samy ausgeliehen habe. Sehr viel verständlicher als das erste. Und, in diesem Buch scheint der Mann durch, den ich hier kennenlerne. Außerdem ein Buch, das ich haben möchte, zum nochmal lesen.

<O>

[Ich wende mich hier direkt an H., weil ich diesen Teil des Tagebuchs kopieren und an sie schicken werde]

Hallo H., falls du neugierig bist, kannst du das Buch ja besorgen. Ich gebe dir das Geld dann wieder. Die Beiträge zu Christentum und Zen betreffen uns vielleicht nicht sehr, aber was er über seine Art Zen zu lernen schreibt, mag vielleicht etwas von der Stimmung hier einfangen. Sehr liebevoll, sehr akzeptierend, freilassend.

Gruß von zwischendrin, G. (drei Kreise)

7.2.1999, 125. Tag, Sonntag

Früh erwacht, noch vor der Morgenglocke um 5:00 Uhr. Von Grandiosität geträumt, irgendwie zwischen Tag- und Nachttraum. Ich muss mich davor hüten, wer so hoch träumt, wird in der Realität tief fallen.

<O>

Mein Gürtel sitzt wieder enger. Ich habe zugenommen. Kein Wunder bei drei ganzen und zwei halben Mahlzeiten am Tag. Gewohnheitsmäßig Milchkaffee mit Zucker. Und immer eine Banane zum Nachtisch. Jede Menge überflüssige Kalorien, die vom vielen sitzen natürlich nicht weggehen.

<O>

Ich habe keine Lust zur Arbeit. Aber es ist wie mit dem Zen, dann werde ich eben unlustig arbeiten.

<O>

Unlustig war’s dann auch. Habe mich über die Schlauchsucherei und allen folgenden Widernissen so in einen Widerwillen hinein gedacht, wie ich ihn bestimmt seit dem letzten Workcamp nicht mehr hatte. Hätte ich reden dürfen wäre dieser Widerwillen auch laut geworden. Null Gelassenheit.

<O>

Ende des Mini Sesshin. Einerseits bin ich froh, dass ab morgen hier wieder der „ Urlaubs-Tagesplan“ herrscht (d. h. nur 4 Stunden täglich Meditation). Andererseits wäre es interessant gewesen, zu sehen, was sich so aus dem Arbeitsfrust entwickelt hätte; so im psychologischen Schnellkochtopf.

Mein „Koan“ […]

<O>

Gerade bin ich zum zweiten Mal umgezogen, d. h. ich habe meinen Vertrag die dritte Woche verlängert. Was mit der vierten Woche und dem großen Sesshin ist, ist unklar (wie gewohnt).

[eingerahmt] So etwas wie ein Rezept: Heute gab’s das erste Mal Nachtisch; ich nenn’s mal Obstsalat. Aber nicht wie wir ihn kennen. Grundlage war Avocadocreme, darin Papaya, Bananen und Mandarinen. Die Creme etwas dünnflüssiger als pure verdrückte Avocado, ich vermute vom Saft der Papaya.

8.2.1999, 126. Tag, Montag (dreiviertel der Reisezeit ist um)

Sowohl Klaus als auch Jonas haben mir angeboten, ihr Zimmer mit mir zu teilen, falls kein Einzelzimmer frei sein sollte zum Sesshin. Im Geheimen bin ich ob solcher Angebote immer etwas beschämt, weil mir wahrscheinlich nicht einfiele, auf diese Weise hilfreich zu sein.

Gestern Abend noch „Get together“ in der Dining Hall, so etwas wie eine Nachbereitung des Sesshin. Inhaltlich ging es dabei nicht ausschließlich um das Sesshin, eher war’s so etwas wie eine verspätete Vorstellungsrunde, jeder konnte von sich erzählen, was er wollte. Das ging erstaunlich gut, wir hatten viel Spaß dabei, obwohl auch genug Ernstes angesprochen wurde. Das ist umso interessanter, als unmittelbar vor dem Sesshin einige neue Leute hinzu kamen, die „die Alten“ vorher nicht kennenlernen konnten. Mit dem Sesshin begann auch die Schweigezeit, das Kennenlernen fand also drei Tage ausschließlich nonverbal statt. Dies schien aber den Prozess der Integration in die Gruppe überhaupt nicht zu behindern. Als das Schweigen aufgehoben wurde waren Gespräche mit den „Neuen“ auf eine viel zwangloserer Art möglich, sie waren einfach nicht mehr neu.

<O>

Auch heute Morgen wieder sehr früh aus einem Traum erwacht. Normalerweise kann ich mir Träume nicht merken. So habe ich auch diesen schon vergessen. Aber im Gegensatz zu sonst weiß ich, dass ich geträumt habe und hätte ich ihn aufschreiben wollen, direkt nach dem Erwachen, wäre das möglich gewesen.

9.2.1999, 127. Tag, Dienstag

Samu: Erde rechen, Grassamen ausstreuen (Rudi), noch mal rechen und stampfen. Stampfen ist anstrengend, aber danach lohnt sich wenigstens das Waschen.

Gestern hat es geregnet, was mich erstens von der Gießerei weg und mir zweitens ein regenwassergespültes Hemd eingebracht hat, da es gerade zum Trocknen auf der Leine hing. Fühlt sich gut an.

Auch heute Morgen wieder vor der Glocke wach gewesen. Mittlerweile glaube ich, dass ich um diese frühe Zeit die meiste Mühe habe, zu verdauen. Zumindest spüre ich die Verdauung und habe Blähungen und das macht meinen Schlaf unruhig (um es mal auf diese grobe Ebene herunterzuziehen).

Meine Meditationsbemühungen scheinen mir gerade ziemlich vergeblich. Ich bin innerlich unruhig und die Hälfte der Zeit unkonzentriert. Andererseits bekomme ich gesagt, dass meine Haltung gut ist (die meiste Zeit jedenfalls) und ich ruhig sitze. Beides Aussagen, die ich über mich keinesfalls getroffen hätte. Lassen wir es mal offen, wer besser über mich Bescheid weiß, ich oder die anderen.

 <O>

Habe gerade von Rolf die Adresse der Kalaripayat-Schule in Trivandrum bekommen. Er hat dort die Grundausbildung gemacht, die er für die Theaterarbeit mit einer traditionellen indischen Theatergruppe brauchte. Kampfkunst und Theaterarbeit haben identische Gesten und Positionen, deshalb.

<O>

Schon zweimal habe ich von verschiedenen Menschen gesagt bekommen, sie hätten das Gefühl, ich sei schon viel länger da, als ich es tatsächlich bin. Ich freue mich darüber, scheint es doch auszudrücken, dass ich hier ganz gut „reinpasse“.

10.2.1999, 128. Tag, Mittwoch

Schweigetag

  • Anspannung Entspannung
  •  [Eine kleine Bleistiftskizze] dies ist die Stelle, auf die ich stundenlang starre, möglichst ohne Fokus. Schlitze zwischen den Dielenbrettern und eine sprach Spachtelstelle.
  • Tasche, Z  Ring, Thermosflasche (Hinwendung zum Konservativen)
  • das Schaffen einer Seele
  • Thomas Moore, „Seel-Sorge“, Knaur
  • Zaun

Schon nach dem Sesshin sind viele abgefahren, heute noch einmal ein Schwung. Für kurze Zeit sind wir nur wenige. Die ersten „Neuen“ tauchen schon auf, unbekannt noch, fremd. Das Zendo atmet Menschen ein und aus. Viele kleine Trennungen, mehr Trennungen von gewohnten Gesichtern als von lieb gewonnenen Menschen. Trotzdem, wer gibt schon gerne Gewohnheiten auf.

Für den Schweigetag haben wir wieder ein paar Fragen mitbekommen. Wer wir sind und wie wir das geworden sind? Wo wir noch hin wollen? Für solche Fragen bin ich gerade – aber wann überhaupt – nicht drauf. Lieber möchte ich schweigend und verträumt in der Gegend rumlaufen, schlafengehen bis zur Meditation, und dann meditieren bis zur Mahlzeit, und danach vielleicht verträumt in den …

Mag schon sein, dass hier das eine oder andere in Bewegung gerät, ausdrücken kann ich das alles nicht. Vielleicht bin ich auch nur zu faul oder ich traue mich nicht, es niederzuschreiben. Traue mich vor mir selbst nicht! Allein dieses „in Bewegung geraten“ empfinde ich als Verrat an dem, der ich war (auch wenn sich ein anderer Teil von mir nichts mehr wünscht).

Und dann fehlt mir natürlich die Sprache. Wenn ich aufschreiben wollte, was mir zu dem Spiegelstrich (siehe oben) „Das Schaffen einer Seele“ durch den Kopf geht, müsste ich vermutlich ziemlich abheben (oder eintauchen, wie nah sich die Extreme manchmal sind).

Aber die Fragen, die dahinter stehen, lassen sich relativ leicht formulieren:

Wie bekommt man in eine verarmte „moderne“ Restseele wieder etwas leben?

Was macht ein reiches Seelenleben überhaupt aus?

Was ist das für ein Bereich, den wir als Seele bezeichnen?

Ist doch interessant, allerdings auch etwas beschämend, dass ich nach annähernd drei Therapien, einem Sozialpädagogikstudium und der Lektüre von circa 763 Büchern zum spirituellen Leben auf diese Fragen noch immer keine schlüssige Antwort habe.

Das Gute daran ist, dass ich bis jetzt jede dogmatische Antwort auf diese Fragen vermieden habe!

<O>

Spaziergang auf dem Gelände. Es ist viel größer als ich dachte. Morgen werde ich mal die Außengrenze ablaufen. Außerdem einen Ausgang entdeckt, der zu einem Bach führt, der den Hang hinunter wasser-ge-fallen kommt. Auch einige „Motive“ entdeckt, es muss aber heller sein zum fotografieren, zumindest mit der Kamera, die ich dabei habe.

Der Garten ist großartig !

<O>

Der freie Donnerstag beginnt Mittwoch nach dem Abendessen, d. h. die letzte Stunde Meditation fällt aus. Und nun bemerke ich, dass sie mir fehlt. Auch der Gedanke morgen den ganzen Tag nicht zu meditieren ist eher von einem Gefühl des Verlusts begleitet als von „ Frei-tags-freude “.

11.2.1999, 129. Tag, Donnerstag

Ärger mit der Kamera oder vielleicht auch dem Film, auf jeden Fall konnte sie plötzlich nicht mehr weiter transportieren. Musste zurückspulen. Habe nun leider keinen neuen Film dabei. Da bleiben einige Bilder ungeknipst.

13.2.1999, 131. Tag, Samstag

Samu: Landgewinnung, grobes Unkraut raus, durch Hagen, Steine raus, nivellieren. Leider nur kleine Mauern rund um die Bäume ausbessern und aufstocken. Trotzdem, besser als keine Mauern und Jonas, mit dem zusammen ich die Arbeit teile, mag das Steine setzen nicht, sodass ich wohl die meisten Steinarbeiten übernehmen kann.

<O>

Eine Geschichte : Zehn Weise sollen ihre Weisheit zusammenfassen in zehn Büchern, in einem Buch, einem Kapitel und schließlich einem Satz. Was bleibt ist: „This too shall pass “ („ Auch das wird vorübergehen “).

<O>

Manche beschreiben das Zendo als einem Ort, an dem man mehrmals am Tag für 2 Stunden fastet. Wegen der häufigen Mahlzeiten.

14.2.1999, 132. Tag, Sonntag

4.  Dokusan
[…] (kein Koan ist leicht!).

Ab morgen ist Sesshin, heute ist Sonntag, kurz, die Bücherei ist die nächsten Tage unzugänglich. Dumme Sache, denn auf der Suche nach einer Antwort wäre ich zuerst in die Bücherei gegangen, nicht um „abzugucken“, sondern um überhaupt mal etwas zu den Koans und der Methode, sie zu lösen (falls es so etwas gibt), zu finden. Fest steht: Zen hat seine eigene Sprache und eine – dem Westmenschen nicht unmittelbar zugängliche – Tradition. Da hineinzuwachsen ist eine Aufgabe des Schülers. Die Koans mögen das beschleunigen. Zu allererst aber gilt [im Tagebuch eingerahmt]: Dein eigenes Leben ist das Koan überhaupt! Dieses Koan will gelöst sein, und kein anderes.

15.2.1999, 133. Tag, Montag

Gestern Abend: Get together mit der „Widerstandsbewegung“.  Wie überall ist auch hier nicht alles und nicht jeder ideal. Und wie überall gibt es auch hier Menschen, die die kritikwürdigen Punkte stärker hervorheben als andere. Und ob diese Kritikpunkte nun der eigenen begrenzten Sichtweise zu verdanken sind, oder ob sie  „wirklich“ sind, ist nicht immer leicht zu entscheiden. Im Wesentlichen lässt sich die Kritik wie folgt zusammenfassen:

  1. Ama Samy benimmt sich nicht immer so, wie sich ein Roshi benehmen sollte.
  2. Die Assistenten, d. h. die Menschen, die länger hier sind und die Organisation der Meditationen und das Alltagsleben übernehmen, sind nicht immer so drauf, wie es einem langjährigen Meditierenden entspricht.
  3. Die langjährigen Schüler sind so ernsthaft und den neuen gegenüber eher abgewandt.
  4. Wenn 1.-3. die Ergebnisse der Zen-Praxis sind, ist der Wert dieser Praxis zu hinterfragen.

Wenn man es so zusammenfasst, wie ich es jetzt getan habe, ist diese Kritik leicht abzutun. Es ist ein Klagen darüber, dass die Menschen so unvollkommen sind, wie sie es nun einmal sind und sich obendrein auch noch weigern, den Ansprüchen der Kritisierenden  entgegen zu kommen. Im Einzelfall aber mag jeder einzelne der Kritikpunkte, mit großer Überzeugungskraft vorgetragen, nachdenklich stimmen und zu Zweifeln führen.

Wie also stelle ich mich dazu? Richtig bedenkenswert finde ich nur Punkt 4. Die menschlichen Schwächen der „Alten“ kann ich akzeptieren, zumal die Gesamtverfassung des Zendos überzeugend ist. Wer so etwas auf solchem Niveau halten kann, hat Qualitäten, die etwas Nachsicht auf weniger entwickelten Bereichen verdienen.

Punkt 4, die Ergebnisse der langjährigen Praxis. Unbestreitbar scheint die Mehrheit der tibetischen Mönche „ besser drauf“ zu sein, als der durchschnittliche Zen-Schüler. Dass dies auch auf Vispassana-Meditierende zutrifft muss ich einfach mal glauben. Und die Sanyassins waren auch immer so lustig!

Ich glaube, derjenige, der Zen wirklich über Jahre Jahre übt, hat von Anfang an einen ziemlichen Leidensdruck mitgebracht und er hat sich aufgrund einer bestimmten Charakterstruktur eher dem Zen als einer anderen Methode zugehörig gefühlt. Aus dem mag dann die Ernsthaftigkeit entstehen, die von manchen als freudlos empfunden wird. Der Wert von Zen als Methode schmälert das nicht.

<O>

Heute ist der erste Tag des großen Sesshin. Der Tagesplan hat sich etwas verändert, morgens und abends kommt jeweils eine halbe Stunde Meditation dazu, was die potentielle Schlafens Zeit auf 7 Stunden verkürzt, real bleiben vermutlich sechseinhalb Stunden. Im Moment ist noch allgemeines Relaxen, Freizeit. Heute Abend um 20:00 geht es los.

<O>

Deutsches Sprichwort (?): Ein Gast ist wie frischer Fisch, nach drei Tagen stinkt er. [Ich erinnere keinerlei Kontext, warum das aufgeschrieben werden musste.]

16.2.1999, 134. Tag, Dienstag

Mit der Zeit bekommt man ein recht gutes Gefühl dafür, wie lange 25 Minuten Meditation dauern. Selbst wenn die Aufmerksamkeit schwankt und gewiss nicht bei der Zeit ist.

Dem steht ein Phänomen gegenüber, dass ich heute zum ersten Mal erlebt habe, nämlich dass die Zeit scheinbar „verloren geht“. Subjektiv sind vielleicht 10 Minuten vergangen, plötzlich ertönt der Gong, das bedeutet 25 objektive Minuten sind vergangen.

Wo war „ich“ in der Zeit? Nicht träumen, man weiß wenn man träumt. Nicht meditieren im Sinne des Wissens um das eigene meditieren.

Ich habe eine Zeichnung zu diesem Phänomen gesehen (siehe links), die es so erklärt : das Bewusstsein versucht sich dem eigenen Zentrum zu nähern. In der Zeichnung der Punkt unterhalb des Meditierenden, sagen wir also, das Bewusstsein will tiefer gehen. Zeit ist nun eine Funktion der Entfernung vom Zentrum, die Zeichnung will das verdeutlichen. Je näher du deinem Zentrum bist (nehmen wir an, du tust etwas, was dir wirklich Spaß macht), umso schneller vergeht die Zeit. Umgekehrt scheint die Zeit kaum zu vergehen, dir eine Tätigkeit wirklich „fern liegt“ oder du im Widerstand gegen sie bist.

Jeder kennt das. Aber meistens ist man durch die jeweilige Tätigkeit noch irgendwie an die objektive Zeit gebunden. Beim Meditieren geht es anscheinend „tätigkeitlos“ zum Zentrum und, oops, ist die Zeit weg.

<O>

Habe eben nochmal die von mir gesetzten Mäuerchen angeschaut. Ganz nett, ich werde sie für die Werkschau fotografieren, aber ein Teilstück werde ich noch einmal herausnehmen und korrigieren. Es setzt die Rundung nicht mit der richtigen Krümmung fort. Mit etwas mehr Aufmerksamkeit hätte ich diesen Fehler vermeiden können, aber ich habe mich einfach auf einige Steine, die schon lagen, falsch lagen, verlassen [daneben eine kleine Bleistiftskizze].

17.2.1999,135. Tag, Mittwoch

Große Müdigkeit, zwischen 5:00 und 6:00 Uhr wünsche ich mir nichts mehr, als das Frühstück ausfallen zu lassen und noch mal für eine Stunde ins Bett zu gehen.

Gegen 6:00 Uhr nimmt dann der Hunger zu, also doch lieber frühstücken. Und danach ist es zu spät fürs Bett. Nächste Gelegenheit nach dem Mittagessen.

Schmerzen kommen und gehen, schon nach der nächsten Gehmeditation kann alles anders sein. Oder genau gleich! Es gibt keine Sicherheiten, ich sitze eine Stunde und bemerke erst am Ende, dass ich wirklich überhaupt keine Schmerzen habe. In den nächsten 25 Minuten schläft mir der Fuß ein, dass ich kaum laufen kann. Mal ist mir heiß, dann wieder kalt. Ganz egal wie gut ich mich zu Beginn der Meditation auf meinem Zafu [dem Sitzkissen] einrichte, es ist unbequem oder bequem, ganz nach eigenem Willen. Rückenschmerzen strahlen aus bis in die Nierengegend um anschließend fast ganz zu verschwinden. Kaum etwas ist vorhersehbar, die meisten Manipulationen an Haltung und Sitzposition sind reiner Aberglaube (der sich nicht einmal selbst erfüllt). Trotzdem suche ich weiter den „optimalen“ Sitz.

Genug geklagt , jetzt geht’s Mäuerchen bauen!

18.2.1999,136. Tag, Donnerstag

Ob es die Nachwelt jemals interessiert, wann ich welches Stern- Rätsel gelöst habe, ist fraglich. Oder ob mich das noch mal interessiert. Trotzdem sei’s erwähnt, weil ich so unglaublich stolz bin. Es ist mir zum ersten Mal gelungen zwei der mathematischen Rätsel im Stern zu lösen. Alle früheren – zumeist recht halbherzigen – Versuche habe ich sehr schnell aufgegeben. Und hier verwende ich meine knappe Zeit darauf! Zuerst es zu lösen und mich dann darüber ins Tagebuch zu freuen.

<O>

Ich weiß jetzt warum während der Sesshin geschwiegen wird. Wenn wir darüber reden würden, wie wir uns fühlen, und vor allem wie unser Körper sich fühlt, käme es vermutlich zu Massenfluchten.

<O>

Verstärkt wieder Gedanken ans Peters-Gelände. Damit kann ich mich stundenlang beschäftigen .

<O>

Das Rechenrätsel habe ich mit Tante Lenis Hilfe gelöst. Sie hat mir einmal – und da kann ich nicht älter als 14 oder 15 Jahre gewesen sein [eher so um die 10, sie ist einen Tag vor meinem 11. Geburtstag gestorben] – erklärt, wie sie so ein Rätsel löst. Besser: wie Sie den Anfang findet,  die erste Zahl. Damals wie heute die Null. Ich glaube bei allen früheren Versuchen habe ich einfach die Null nicht gefunden. Und einen anderen Anfang kenne ich nicht. Soviel zum Thema „dazulernen“.

19.2.1999, 137. Tag, Freitag

  • Ich könnte ja einmal versuchen, einige Regeln zum Auffinden der ersten Zahl aufzustellen.
  • Meine Reisepläne für die Zeit nach dem Zendo müssen exakterer werden. Ich habe weniger Zeit als ich denke.
  • Zeit Diagramm für Gesamtreise [ein kleines Bild]
  • Im Brief an Frau Peters das Motiv des Verliebens (in diesem Fall in das Haus).

Teisho:
An American Roshi was asked: „Are you enlighted?“ His answer: „Ask my wife?“

Gehe hinein in die Welt und lerne zu antworten. Du wirst jeden Tag gerufen, antworte. Spiritualität soll kein Rückzug von der Welt sein. Geh in die Welt und verliere dich in sie hinein. Dann komm zurück und finde dich wieder. Dein Verhältnis zur Welt und den Menschen um dich herum ist der Maßstab, mit dem sich deine Spiritualität messen lassen muss

Spiritualität ist tätig sein.
Spiritualität ist In-Beziehung-sein.
Spiritualität ist noch viel mehr, aber ohne das ist sie nicht.

Das Sitzen ist eine Metapher auf das Leben selbst. Und eine Übung dafür. Wer 9 Stunden gut sitzen kann, weiss, wann und wo er sich anzuspannen hat und wann und wo Entspannung angesagt ist. Er weiß mit Schmerzen und mit Langeweile umzugehen. Scheinbare oder wirkliche Erfolglosigkeit sind ihm vertraut (und vermutlich schon lange egal). Er hat sich in der Unvorhersehbarkeit der nächsten 25 Minuten eingerichtet.

Er hat all das zu ertragen gelernt und jetzt kann er sitzen. An das Leben hingegeben, mit allen Sinnen wach, in sich zentriert und in der Welt zugleich.

Wie schon die Prinzessin sagte: „Man muss eine Menge Frösche küssen bis man einen Prinz findet.“

Die Aufgabe ist immer wieder zu sich selbst, zur eigenen Mitte, zum eigenen Atem, zurückzufinden. Immer wieder Haltung einzunehmen, 100 Mal einzusacken und zum 101ten Mal sich aufzurichten und zum Gewahrsein des eigenen Körpers zurückzukehren. Die endlos auftauchenden Träumereien wahrzunehmen und weiterzuschicken, aufzugeben für die karge Realität des eigenen Atems, das eigenen Körpers.

Die Belohnungen sind selten, auch das ist das Leben. Zumeist ist es mühsam. Aber es gibt eine Versprechung. Wenn wir nur tief genug hinein sehen in unser (und alle Wesen) Elend, es annehmen, es aus seinem Ausgestoßen-sein erlösen, dann nehmen die guten Momente zu. Mehr Freude, Heiterkeit, Gelassenheit, Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit werden am Rande des Weges versprochen. Und am Ende Erleuchtung. Wenn die aber anstrebt hat schon verloren. Wie überhaupt alles „streben nach“ zu vermeiden ist. Wer strebt hat schon verloren. Wie aber etwas wollen ohne es zu wollen? H. hat seit Jahren die Antwort: Feste loslassen!

Fünftes Dokusan […]

20.2.1999, 138.Tag, Samstag

Das soll mal einer sagen, sexuelle Fantasien seien für nichts gut. Da war ich also gerade dabei in Gedanken […]

In diesem Moment überkommt mich (real!) ein Schauer und Strecken, ein kleines Schütteln, alles ganz unwillkürlich und noch bevor ein kontrollierende Hirn auf Bewegungslosigkeit bestehen kann, und anschließend sitze ich in bester Meditationshaltung da. Ein Zustand, den ich sonst sehr bewusst herstellen muss, jetzt einfach mal so hingeschüttelt. Mein Körper weiß also schon, was ihm gut tut, jetzt muss er nur noch lernen, länger dabei zu bleiben.

Die Fantasie war mit diesem Schauder zu Ende, kein Problem, denn irgendwie war ich ja auf diese Weise da angelangt, wo ich hin wollte und meine Entspannung hatte ich – ganz real – auch.

21.2.1999, 139. Tag, Sonntag

Gestern Abend Ende des Sesshin, heute ein freier Tag. Wäsche waschen, Schuhe putzen, erste Vorbereitungen für die Abfahrt. Bis 25. könnte ich bleiben, aber vermutlich gehe ich früher. 30 Tage erscheinen mir so wenig und so viel zugleich. Wenig, wenn ich daran denke, was ich noch tun will hier; viel wenn ich an zu Hause denke.

Meine Reisepläne sind unsicher zur Zeit. Ich muss auswählen und das macht mir Schwierigkeiten.

Der höchste Weg ist nicht schwierig,
nicht wählerisch sein,
das ist es.

Seng Tsan: Die Meiselschrift vom Glauben an den Geist

<O>

Gestern Abend beim Get together haben einige davon berichtet, wie hart sie mit ihrem Koan ringen. […, anerkennend] Keiner hier ist in einem Geisteszustand, der ihm das Lösen von Koans erlaubt und jeder sollte intelligent genug sein, das auch zu wissen. Und dennoch probieren Sie es!

<O>

Es wird sehr viel mehr gelacht als vor dem Sesshin. Und jeder ist am erzählen als müssten die fünf Tage Schweigen wieder ausgeglichen werden.

22.2.1999,140. Tag, Montag

Ausflug nach Kodai zum Postamt, schauen ob Post da ist, leider keine. Das erste Mal seit vier Wochen wieder unter Indern, in Indien. Ganz gut zum Dran-gewöhnen, so ein kurzer Kontakt.

Samu: Beet umgegraben, Bohnen gesetzt und angegossen. Hab mir eine Handvoll mitgenommen, zum Setzen in meinem eigenen Garten.

Heute sind wieder etliche Leute abgefahren, wieder Abschiedsstimmung. Adressen ausgetauscht, vereinbart in Kontakt zu bleiben und irgendwo (vermutlich bei K. in W.) mal ein kleines Retreat zu veranstalten. Ich hoffe, das gelingt; alles nette Menschen.

23.2.1999, 141. Tag, Dienstag

Eigentlich sollte dies mein letzter voller Tag im Zendo sein. Aber nun ist morgen Schweigetag, was ich ganz vergessen hatte. Also bleibe ich einen Tag länger. Zu gehen, ohne den Menschen hier Tschüss zu sagen, kann ich mir einfach nicht vorstellen.

Zunächst wollte ich ja nur bis Dienstag bleiben, dann gab es irgendeinen Grund bis Mittwoch zu bleiben und jetzt wird es Donnerstag. Es fällt mir schwer zu gehen. Was mich hält ist mir selbst nicht ganz klar. Vielleicht weil es hier so westlich und so heil ist. Indien interessiert mich nicht mehr so sehr, meine Neugier habe ich verloren.

Es ist schon seltsam, das Leben hier ist sehr eintönig und geregelt, trotzdem fehlt ihm nichts. Man kriegt das Gefühl, dass es immer so weitergehen könnte, ohne Höhen und Tiefen, und nicht würde fehlen.

<O>

Dieser Ort ist ein Ort des Ringens mit sich selbst, Außenfeinde gibt es nicht und wenig, worüber sich mit anderen auseinanderzusetzen lohnen würde. Die Arbeit ist so kurz, dass sie mehr Erholungscharakter hat (eineinhalb Stunden täglich). Diskussionen und Gespräche verlaufen friedlich, weil jeder ein guter Zen-Schüler sein will und Zen das Anhaften an Meinungen als wenig nützlich ansieht.

Es gongt zur Abendmeditation.

24.2.1999, 142. Tag, Mittwoch, Schweigetag

The very last day. Unsortierte Gedanken

  • Beim Unkraut jäten: dort, wo das Unkraut besonders gut siedeln kann (in lockerem Boden) ist es auch besonders leicht zu entfernen. Mit einzelstehenden Pflanzen in steinigem Boden hat der Entferner ist schwer. Wo will ich siedeln?
  • No pain, no gain <-> no brain, no pain (?)
  • Welche Akupunkturpunkte werden mit dem Kyusaku geschlagen? Wecken Sie tatsächlich psychische Energien?
  • Leere ist Form, Form ist Leere.??? Beispiel des Schmelzens von Silber (Leere) um es in eine Form zu gießen (Form)
  • Willst du etwas über die Vergangenheit wissen, schau in den Spiegel. Willst du etwas über die Zukunft wissen, schau in den Spiegel.
  • das Gefühl, dass jetzt noch 14 Tage mehr hier unheimlich viel bringen könnten
  • das Gefühl, dass jetzt noch 14 Tage mehr hier einfach nur anhaften wären
  • Gemüseschneideplatten, Tischaufsätze [Zeichnung]
  • Bananenblütenschale mit Blumen drin [Zeichnung]
  • Gitter vor den Fenstern [Zeichnung]
  • Libellen über den Blumen
  • nichts lässt sich wirklich festhalten

Nach dem Abendessen, von Angela angeleiert, eine „Singrunde“ für die, die gehen, sprich mich, Ronja und Kaisha! Überwiegend Liedgut aus dem religiösen Bereich; Kirchenlieder, Heilsgesänge und Abendshanties aus den Ashrams. Zum Abschluss eine geleitete Meditation. Sehr schön, aber ich war etwas unruhig und auch traurig, weil ich nichts beitragen konnte.

Vor dem Abendessen Meditation und mein sechstes und letztes Dokusan. Ich habe nach irgendwelchen speziellen Hinweisen gefragt, die ich berücksichtigen solle für meine Praxis. Nein, nichts besonderes, ich solle versuchen täglich zu sitzen und dabei herausfinden, was mir gut tut. Und ich solle nicht an der Technik kleben, womit er vermutlich meint, ich solle beim Sitzen mehr entspannen und mich weniger mit der richtigen Position stressen.

<O>

Liebe H., der Kopierer ist kaputt und deshalb bekommst du diesen Brief mindestens vier Tage später als ursprünglich von mir geplant. Das Gute im Schlechten, die Zendo-Zeit ist jetzt vollständig erfasst. So etwas gefällt mir.

Ich schlaf jetzt, G. (drei Kreise)

25.2.1999, 143. Tag, Donnerstag morgens

Bushaltestelle Perumalmalai, ich bin wieder unterwegs.

[…]

Heute Morgen der Abschied war …, ich weiß nicht wie. Mir fiel es schwer zu gehen und ich ging eine Stunde nach dem Ronja und Kaisha mit dem Jeep nach Kodai davon sind. Ich in die entgegengesetzte Richtung zu Fuß. Viel Gedrücke zum Abschied, was es nur schwerer gemacht hat.

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 Tja, so war das. Zendo-Zeit Ende, Brief Ende.

Mit Liebe, G. (drei Kreise)

[In den folgenden beiden Jahren war ich nochmals für jeweils vier Wochen im Boddhi Zendo, ich beabsichtige auch die Aufzeichnungen davon hier einzustellen. Noch ist dafür nichts getan. Wer ungeduldig ist, soll einen Kommentar hinterlassen, vielleicht geht es dann etwas schneller.

Update (4.12.2022): Der zweite Teil der Zendo-Tagebucheinträge ist veröffentlicht. Ich empfehle den Umweg über eine kurze Einleitung dazu, Ungeduldige gerne gleich hier]

Update (31.3.2023): Und nun auch der dritte und letzte Teil, wie zuvor gibt es eine Einleitung und die eigentlichen Tagebucheinträge.

 

Weihnachten in Kalkutta

eingefügt 24.12.2019

24.12.1998, 80. Tag, Donnerstag

Frühstück im Blue Sky, Müsli und schwarzer Kaffee. Habe lange (durch)geschlafen, nachdem ich mich in der Nacht ausgeschissen habe (Durchfall). Bin nicht ganz in Ordnung, Husten und sehr leichtes Fieber. Werde mich jetzt nicht davon stören lassen, sondern mich gut ernähren und hoffen, dass es vorüber geht.

Nun ist es kurz vor 12:00 und ich werde meine Pläne für den Sightseeing-Tag machen.

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Botanischer Garten
Erst zum Hooghli spaziert und mit der Fähre übergesetzt. Danach mir den Luxus eines Taxis geleistet um hinzukommen. Rückweg mit dem Bus für 1/14 des Fahrpreises.

Der botanische Garten ist angenehm ruhig, ein Platz zum Entspannen, was mir dort auch gelungen ist. Einfach nur darin herumgelaufen, die Pflanzen waren zum Teil interessant, für mich aber doch eher nebensächlich. Wichtig war die Ruhe, keine Autos, kein Gehube, keine Verkäufer. Für den Weihnachtstag genau richtig, beschauliches Spazierengehen.

25.12.1998, 81. Tag, Freitag
Den Weihnachtsabend im Mutterhaus von Mutter Theresa verbracht. Ab 8:00 abends eine Prozession mit Kerzen von der Heilsarmee zum Mutterhaus, Dauer circa 45 Minuten. Dort ein Krippenspiel, aufgeführt von den westlichen Volunteers mit netten, ungewollt humoristischen Einlagen.

Ab 22:00 dann eine Christmesse, deren Aufsteh- und Wieder-Hinsetz-Rituale mir etwa so unverständlich waren wie ein Kali-Tempel. Nach der Messe gab’s Kakao (geil) und Gewürzkuchen und eine Banane und eine Karte mit einem Spruch.

Zurück wollte ich eigentlich schnell und unkompliziert, aber irgendjemand hatte Fanis Markenturnschuhe mit seinen verwechselt (hoffentlich) und sie führte lange Zeit am Ausgang eine Fußkontrolle durch.

Zurück in der Heilsarmee dann noch eine mit Süßigkeiten gefüllte Socke auf dem Bett. Richtig nett.

Dennoch, irgendwie ist es unmöglich diesen Tag auf angemessene Weise zu begehen. Während der Messe hatte ich den Wunsch „zuhause“ geblieben zu sein (das war einfach nicht meine Art von Veranstaltung). Wäre ich aber zuhause geblieben, hätte ich dort gesessen und mich gefragt, warum ich mit diesem besonderen Tag nichts Besseres anzufangen weiß. Ich kann diesen Tag nicht begehen und ich kann ihn nicht ignorieren.

Vor diesem Hintergrund bin ich mit meiner Wahl bei Mutter Theresa zu feiern eigentlich ganz zufrieden. Ich schaue halt bei „fremden“ Brauchtum zu und bin so nah dran, wie mir möglich ist.

Aber natürlich ist es nicht der christliche Hintergrund, der das Fest so schwierig macht. In Deutschland ist Weihnachten das „Fest der Familie“ und das ist das, was in mir all diese widerstreitenden Gefühle auslöst, Traurigkeit und Bitterkeit und manchmal auch Aggression.

[…]

Frohe Weihnachten!

Nur in der Fremde …

1.11.1998, 27. Reisetag, 5. Brief

Liebe H, lieber M., liebe Ha.,

morgen ist ein besonderer Tag in zweifacher Hinsicht. Erstens ist mein Geburtstag und zweitens beginnt morgen die Workcamp-Zeit, die sicher (und hoffentlich) ganz anders sein wird, als es die zurückliegenden vier Wochen waren.

Vier Wochen bin ich nun schon in diesem Land unterwegs, Zeit genug für einen ersten Eindruck. Man sagt, man müsse dieses Land lieben oder hassen, dazwischen gäbe es nichts. Das scheint mir eine Vereinfachung, ich jedenfalls bin noch unentschieden. Und das allein schon deshalb, weil es hier so vielfältig ist. Nehmt nur die Landschaft, ich war in grün-saftigen Bergen, ich war in der Wüste, ich war in fruchtbarem Flachland und zum Schluss in einer Gegend, die von alldem etwas hatte, hügelige Ödnis mit Feldern zwischendrin.

Und auch der Menschenschlag, der diese Landschaften bewohnt, unterscheidet sich genug voneinander um Vorlieben oder Abneigungen ausbilden zu können. So einfach ist das also nicht mit dem Entweder-Oder.

[…]

2.11.1998

[…] Gefeiert habe ich im SCI Büro. Es gab einen kleinen Geburtstagskuchen und eine Kerze und drei furchtbar falschsingende Inder. Der Kuchen schmeckte fast deutsch und so etwas ist hier schwer zu finden, dazu gab es Kaffee, der gut zubereitet fast noch schwerer zu finden ist. Von daher war das „Fest“ ein voller Erfolg

Abends bin ich dann zur Jugendherberge, wo ich mich mit Das (dem Junggesellen, der mich eingeladen hatte) verabredet hatte. Er war wieder mit einer Schulmission unterwegs. Es hat gut getan, mit jemandem zu reden, den man schon kennt, wo es sich ein bisschen wie Freundschaft anfühlt. Zum Abschluss hat er mich eingeladen, ihn morgen zusammen mit einem Bus voller englischer Teenager und deren Lehrer nach Agra zu bekleiden und den Taj Mahal anzuschauen. Ich konnte das annehmen, weil morgen ein SCI-freier Tag ist. Und ich freue mich schon darauf.

Na und jetzt verbringe ich den Rest meines Geburtstages mit euch, indem ich euch diesen Brief schreibe.

[…]

Küsse
Günther